„Aus der UAW-Datenbank“: Agranulozytose nach Selbstmedikation mit Metamizol

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2023

Bekanntgaben DÄB

(Nachdruck aus: Deutsches Ärzteblatt 2023; 120: A 685-686)

Das Analgetikum Metamizol besitzt neben schmerzlindernden auch antipyretische und spasmolytische Eigenschaften (1). Wegen seines Agranulozytose-Risikos ist es in zahlreichen, auch EU-Ländern, nicht verfügbar. In Deutschland traten 1987 eine Einschränkung der Indikation (s. Kasten 1) sowie ein Widerruf der Zulassung aller Metamizol-haltiger Kombinationspräparate in Kraft (2;3). Dennoch steigen die Verordnungszahlen seit Jahren an. Im Jahr 2021 wurden über 260 Millionen definierte Tagesdosen zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet (4).

Der AkdÄ wurde der Fall eines 37-jährigen, bislang gesunden Patienten gemeldet. Dieser hatte wegen Rückenschmerzen eigenständig einige Tage lang Metamizol angewendet (genaue Dauer und Dosis sind nicht bekannt) und sich dann wegen Halsschmerzen und starken Schluckbeschwerden in einer universitären HNO-Klinik vorgestellt. Dort wurden eine ausgeprägte Leukopenie (200/µl) sowie ein Peritonsillarabszess festgestellt, der operativ saniert wurde.

Im weiteren intensivmedizinischen Verlauf traten verschiedenste Komplikationen auf: Unter anderem musste der Patient mehrfach revidiert werden, und er entwickelte im Verlauf einen septischen Schock sowie eine Critical Illness Polyneuropathie (DD Guillain-Barré-Syndrom). Bei prolongiertem „Weaning“ (Entwöhnung vom Beatmungsgerät) erfolgte eine Tracheotomie. Da unter Behandlung mit G-CSF die Leukozyten nur langsam anstiegen, erfolgte eine Knochenmarkbiopsie, welche keinen Anhalt für eine maligne Erkrankung ergab.

Zum Zeitpunkt der Verlegung auf die periphere HNO-Station bestand noch eine Tetraparese (Kraftgrad 3/5), die Atmung erfolgte über die sogenannte „Feuchte Nase“. Die Agranulozytose war zu diesem Zeitpunkt vollständig gebessert. Zweieinhalb Wochen später wurde der Patient – mobil mit Rollator – nach Hause entlassen. Eine Rehabilitationsbehandlung war geplant.

Das Agranulozytose-Risiko von Metamizol ist seit langem bekannt. Dabei handelt es sich um einen Abfall der neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut auf unter 500/µl. Die Betroffenen weisen ein erhöhtes Risiko für Infektionen auf, die lebensbedrohlich sein können (z. B. Sepsis). Die Fallsterblichkeit liegt bei 5 bis 10 % (5). Mögliche medikamentöse Auslöser sind neben Metamizol beispielsweise Trimethoprim/Sulfamethoxazol, Clozapin, Sulfasalazin und Thiamazol. Um medizinische Komplikationen und die Sterblichkeit zu verringern, müssen beim Verdacht auf Agranulozytose mögliche Auslöser umgehend pausiert (ggf. abgesetzt) werden (6).

Die Angaben zur Häufigkeit Metamizol-assoziierter Agranulozytosen in der Literatur schwanken: So ergab ein systematisches Review über epidemiologische Studien ein relatives Risiko von 1,5 (95 % Konfidenzintervall [CI] 0,8 – 2,7) bis 40,2 (14,7 – 113,3) (7). In der Berliner Fall-Kontroll-Studie wurde eine Inzidenz von 0,96 (0,95 – 0,97) pro eine Million Einwohner pro Jahr berechnet, was – korrigiert für Alter und Geschlecht – 65 zu erwartende Fälle Metamizol-assoziierter Agranulozytosen pro Jahr in Deutschland bedeutet. Für eine zweiwöchige Behandlung wurde ein Risiko von einem Fall pro 143.000 Personen berechnet (8). In der Analyse von Daten einer großen deutschen gesetzlichen Krankenversicherung wurde ein Risiko von 1:1602 (95 % CI 1:1926; 1:1372) pro Patient und pro Verschreibung für arzneimittelinduzierte Neutropenie und Agranulozytose im Zusammenhang mit Metamizol identifiziert. Allerdings wurde in dieser Studie nicht zwischen Neutropenie und Agranulozytose unterschieden, sodass das Risiko möglicherweise überschätzt wird (9). Im Jahr 2020 wurden dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 65 Verdachtsfälle Metamizol-induzierter Agranulozytosen gemeldet, von denen vier fatal verliefen (10). Insgesamt scheint das Auftreten einer Agranulozytose im Zusammenhang mit Metamizol sehr selten zu sein, was auch in der Fachinformation so dargestellt wird (1).

Der Pathomechanismus der Metamizol-assoziierten Agranulozytose ist nicht abschließend geklärt. Diskutiert wird unter anderem ein immunologisch vermittelter Prozess, bei dem ein reaktiver Metabolit von Metamizol an Neutrophile bindet und die Bildung von Antikörpern sowie eine gegen neutrophile Granulozyten gerichtete T-Zell-Immunantwort induziert (2). Bei zugrunde liegendem Immunmechanismus wäre das Auftreten einer Agranulozytose nach etwa ein- bis zweiwöchiger Behandlung mit Metamizol zu erwarten (6). In verschiedenen Untersuchungen wurde im Median eine Behandlungsdauer von sechs bis 13 Tagen bis zum Auftreten der Agranulozytose gefunden (2;3;8). Allerdings zeigte eine Auswertung von Fallberichten Metamizol-assoziierter Agranulozytosen an die AkdÄ, dass ein erheblicher Anteil der Fälle bereits innerhalb der ersten Tage der Anwendung auftraten (2). Zu vermuten ist in solchen Fällen eine frühere Sensibilisierung der Betroffenen, weshalb der Abfall der Neutrophilen dann rapide sein kann (2;6). Darauf deuten auch Ergebnisse einer Auswertung von Fallberichten aus der Europäischen Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Nebenwirkungen hin: Bei den hier erfassten Fällen war die mediane Zeit bis zum Auftreten einer Agranulozytose kürzer, wenn Patientinnen und Patienten bereits früher gegenüber Metamizol exponiert waren (6 versus 15 Tage) (3). Agranulozytosen treten unabhängig von der Metamizol-Dosis auf (6), was ebenfalls für einen immunologisch vermittelten Mechanismus spricht.

In Fallberichten von Metamizol-assoziierter Agranulozytose wird häufig über Komedikation mit eigenem Agranulozytose-Risiko berichtet. Insbesondere Methotrexat wird im Zusammenhang mit fatalen Fallberichten genannt (2;3). In der Fachinformation von Metamizol wird auf das erhöhte hämatotoxische Potenzial von Methotrexat bei gleichzeitiger Anwendung von Metamizol hingewiesen und von der gleichzeitigen Behandlung abgeraten (1).

Der Patient in der obigen Kasuistik hat Metamizol eigenständig auf Grund von (vermutlich allenfalls mäßig starken) Rückenschmerzen eingenommen, was keine zugelassene Indikation darstellt (s. Kasten 1). Die Anwendung von Metamizol außerhalb der Zulassung ist jedoch nicht selten: In der oben erwähnten Auswertung von Agranulozytose-Fällen, die der AkdÄ vorliegen, war die Anwendung von Metamizol bei etwa einem Viertel der Betroffenen außerhalb der zugelassenen Indikation, etwa bei muskuloskelettalem Schmerz, Kopf- oder Zahnschmerzen. Bei einem weiteren Fünftel war die Indikation unklar (2). Insbesondere ambulant scheint Metamizol häufig „off-label“ angewendet zu werden (8). Bei der Verordnung sollte beachtet werden, dass Metamizol nicht zur Behandlung leichter bis mittelstarker Schmerzen zugelassen und auch nicht Mittel erster Wahl zur Fiebersenkung ist (s. Kasten 1) (10). Gemäß der Nationalen Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ kann Metamizol bei Kontraindikation bzw. Unverträglichkeit gegenüber anderen Nichtopioidanalgetika eine Option darstellen. Dabei wird auch auf das Agranulozytose-Risiko hingewiesen (11).

Offenbar wird Metamizol immer wieder auch ohne ärztliche Verordnung angewendet, zum Beispiel nach Weitergabe des Arzneimittels unter Verwandten (2). Denkbar ist auch die erneute Anwendung aus eigenen Restbeständen, aber ohne neuerlichen Arztkontakt und ohne neuerliche Aufklärung. Aus einer früheren guten Verträglichkeit von Metamizol kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass auch bei einer erneuten Anwendung keine Agranulozytose auftritt (8).

Gemäß Fachinformation werden bei längerfristiger Anwendung regelmäßige Kontrollen des Differenzialblutbilds empfohlen, wobei nicht ausgeführt wird, wann bzw. wie häufig die Kontrollen erfolgen sollen (1). Derzeit kann kein sinnvoller Zeitpunkt empfohlen werden, wann eine Blutbildkontrolle durchgeführt werden sollte (6). Auf jeden Fall sollte bei Auftreten Agranulozytose-verdächtiger Symptome wie Fieber, Halsschmerzen und Entzündungen der Schleimhäute (s. Kasten 2) unverzüglich das (Differenzial-)Blutbild kontrolliert werden (2;12). Bestätigt sich der Verdacht auf eine Metamizol-assoziierte Agranulozytose, dürfen die Betroffenen auch zukünftig kein Metamizol mehr erhalten (1). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Novaminsulfon ein Synonym für Metamizol ist (13).

Fazit

Der dargestellte Fallbericht beleuchtet einen speziellen Aspekt des gut bekannten Agranulozytose-Risikos im Zusammenhang mit Metamizol, nämlich dessen eigenständige Anwendung ohne Arztkontakt und somit ohne Risikoaufklärung. Patientinnen und Patienten sollten bei der Verordnung bzw. bei der Abgabe von Metamizol in der Apotheke darüber aufgeklärt werden, dass Metamizol nicht zu einem späteren Zeitpunkt eigenständig erneut eingenommen oder Reste an Dritte weitergegeben werden sollen. Bei der Verordnung sollte bedacht werden, dass banale Schmerzen wie leicht- bis mäßiggradige Zahn-, Kopf-, Rückenschmerzen etc. kein zugelassenes Anwendungsgebiet von Metamizol darstellen (s. Kasten 1). Patientinnen und Patienten sollten über die typische Symptomtrias einer Agranulozytose (s. Kasten 2) aufgeklärt und aufgefordert werden, bei verdächtigen Symptomen die Anwendung von Metamizol zu unterbrechen und umgehend ärztlichen Rat einzuholen. Um größere Restbestände nach Abschluss der Behandlung zu vermeiden, sollten Ärztinnen und Ärzte bei kurzzeitiger Anwendung möglichst kleine Packungsgrößen verschreiben.

Literatur

  1. A. Nattermann & Cie. GmbH: Fachinformation „ Novalgin® Filmtabletten“. Stand: Juli 2022.
  2. Stammschulte T, Ludwig WD, Mühlbauer B et al.: Metamizole (dipyrone)-associated agranulocytosis. An analysis of German spontaneous reports 1990–2012. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71: 1129–1138.
  3. Hoffmann F, Bantel C, Jobski K: Agranulocytosis attributed to metamizole: An analysis of spontaneous reports in EudraVigilance 1985–2017. Basic Clin Pharmacol Toxicol 2020; 126: 116–125.
  4. Böger R: Arzneiverordnungs-Report 2022. In: Ludwig W-D, Mühlbauer B, Seifert R (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2022. Berlin: Springer-Verlag, 2022; 387–412.
  5. Huber M, Andersohn F, Bronder E et al.: Drug-induced agranulocytosis in the Berlin case-control surveillance study. Eur J Clin Pharmacol 2014; 70: 339–345.
  6. Stamer UM, Stammschulte T, Erlenwein J et al.: [Recommendations for the perioperative use of dipyrone: Expert recommendation of the working group on acute pain of the German Pain Society, the scientific working group on pain medicine of the German Society for Anesthesiology and Intensive Care Medicine and the surgical working group on acute pain of the German Society for Surgery with participation of representatives of the Drug Commission of the German Medical Association]. Chirurg 2019; 90: 652–659.
  7. Andrade S, Bartels DB, Lange R et al.: Safety of metamizole: a systematic review of the literature. J Clin Pharm Ther 2016; 41: 459–477.
  8. Huber M, Andersohn F, Sarganas G et al.: Metamizole-induced agranulocytosis revisited: results from the prospective Berlin Case-Control Surveillance Study. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71: 219–227.
  9. Klose S, Pflock R, König IR et al.: Metamizole and the risk of drug-induced agranulocytosis and neutropenia in statutory health insurance data. Naunyn Schmiedebergs Arch Pharmacol 2020; 393: 681–690.
  10. Lübow C, Rotthauwe J, Behles C: Metamizol: schwerwiegende Nebenwirkungen – Update. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2022; 13 (Ausgabe 4): 24–28.
  11. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz – Langfassung: www.leitlinien.de/themen/kreuzschmerz (letzter Zugriff: 25. Januar 2023). AWMF-Register Nr. nvl-007 , 2. Auflage, Version 1, 2017.
  12. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Agranulozytose nach Metamizol: www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/Archiv/2017-37.html (letzter Zugriff: 15. November 2022). AkdÄ Drug Safety Mail 2017–37 vom 15. November 2017.
  13. ABDATA Pharma-Daten-Service (Hrsg.): Pharmazeutische Stoffliste. 21. Aufl.; Eschborn/Taunus, 2019.