Akutes Leberversagen und aplastische Anämie unter Ethinylestradiol/Levonorgestrel

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2022

Fallberichte

(Dieser Artikel wurde am 13. September 2022 vorab online veröffentlicht.)

Fallbericht

Der AkdÄ wurde der Fall einer 18-jährigen Patientin berichtet, die als einzige Medikation über sechs Monate ein kombiniertes orale Kontrazeptivum (KOK) eingenommen hat (Evaluna® 20, Wirkstoffe: Ethinylestradiol und Levonorgestrel). Sie entwickelte eine schwere hepatitische Reaktion mit Dominanz der Cholestase – Übelkeit, Erbrechen, Ikterus – und eine Panzytopenie. Konsekutive zu akuter Hepatitis kam es zu einer schweren aplastischen Anämie, die wiederum eine allogene Knochenmarktransplantation notwendig machte.

Die Patientin hatte keinerlei Vorerkrankungen. Eine infektiöse Genese der akuten Lebererkrankung wurde soweit wie möglich ausgeschlossen (keine Hepatitis A, B, C, E; CMV; HSV; VZV; HIV; Treponema pallidum; Toxoplasmose). Es fand sich kein Anhalt für eine Schädigung durch eine Stoffwechselerkrankung wie z. B. Morbus Wilson, Hämochromatose, Alpha-1-Antitrypsinmangel oder im Rahmen einer Autoimmunhepatopathie.

Arzneimittel

Das Präparat Evaluna® enthält pro Tablette 20 µg Ethinylestradiol und 100 µg Levonorgestrel in fixer Kombination und ist zugelassen zur oralen Kontrazeption (1). Die kontrazeptive Wirkung beruht auf dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, wobei die Ovulationshemmung und Endometriumveränderungen als die wichtigsten Faktoren angesehen werden.

Cholestatischer Ikterus ist als seltene Nebenwirkung in der Fachinformation von Evaluna® aufgeführt. Weiterhin sind Leberschaden wie z. B. Hepatitis und Leberfunktionsstörung als mögliche Nebenwirkungen genannt. Da letztere erst unter der Anwendung kombinierter oraler Kontrazeptiva nach ihrer Zulassung berichtet wurden, kann ihre Häufigkeit nicht berechnen werden (1). Panzytopenie und aplastische Anämie sind im Gegensatz dazu keine bekannten Nebenwirkungen von Evaluna®.

Krankheitsbild

Viele Arzneimittel werden über die Leber verstoffwechselt. Daher können Medikamente Leberschädigungen verursachen, die entweder hepatozellulär oder cholestatisch oder eine Mischform davon sind. Östrogene – und damit KOK – können cholestatische Leberschäden bedingen (2).

Östrogene und KOK führen zu einer Cholestase durch Hemmung der Bilirubin- und Gallensäuresekretion, indem sie vermutlich mit Kernrezeptoren interagieren, die den Gallensäure- und Bilirubinstoffwechsel modulieren. Frauen mit Cholestase durch KOK haben oft eine Vorgeschichte mit Cholestase in der Schwangerschaft (mit Gelbsucht und/oder Pruritus); zudem sind genetische Variationen in den Gallensäuretransportergenen häufig. Östrogene und KOK können daher eine leichte Hemmung der Bilirubinausscheidung verursachen, was bei Patienten mit Störungen des Bilirubinstoffwechsels zu Gelbsucht führt. Östrogene und KOK können aber auch eine symptomatische cholestatische Leberschädigung verursachen, die typischerweise während der ersten paar Therapiezyklen und selten nach sechs Monaten auftritt. Der Beginn ist schleichend mit Müdigkeit und Juckreiz, gefolgt von Übelkeit, dunklem Urin und Gelbsucht. Die Erhöhungen der Serumenzyme sind in der Regel gemischt oder cholestatisch, obwohl die die Alanin-Aminotransferase (ALT) sehr früh deutlich erhöht sein kann (5- bis 20-fach) (3).

LiverTox ist eine englischsprachige Datenbank des National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases, die aktuelle Informationen über Diagnose, Ursache, Häufigkeit, klinische Symptomatik und Behandlung von Leberschäden bietet, die auf verschreibungspflichtige und nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sowie ausgewählte pflanzliche Mittel und Nahrungsergänzungsmittel zurückzuführen sind. Informationen über ein bestimmtes Arzneimittel oder ein Nahrungsergänzungsmittel finden Sie, indem Sie den Namen des Medikaments oder Nahrungsergänzungsmittels in die Suchmaske eingeben oder indem Sie die alphabetische Liste der Wirkstoffe durchsuchen: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK547852/.

Unter aplastischer Anämie werden verschiedene, pathogenetisch uneinheitliche Knochenmarkinsuffizienzen zusammengefasst. Ursprünglich kann entweder eine immunologische Pathogenese oder eine idiosynkratische Arzneimittelreaktion sein (4).

Bewertung der Kausalität

Östrogene und insbesondere Kombinationen von Östrogenen und Gestagenen wurden mit Episoden ausgeprägter Erhöhungen der Serum-Aminotranferasen (ALT) und Aspartat-Aminotransferase (AST) ohne Symptome, Gelbsucht oder Cholestase in Verbindung gebracht. Die Anomalien verschwinden schnell, wenn die Hormonbehandlung abgesetzt wird (3). In den Zulassungsstudien von niedrig dosierten KOK war keine statistisch signifikant erhöhte Rate an toxischen/akuten Leberschädigungen im Vergleich zu Placebo dokumentiert. Die früheren, höher dosierten KOK führten häufig zu Erhöhungen der Leberenzyme in Serum (3). So fand sich bis 2016 in der Fachinformation von KOK nur der Hinweis wieder, dass akute oder chronische Leberfunktionsstörungen eine Unterbrechung der KOK-Einnahme erforderlich machen können, bis sich die Leberfunktionswerte wieder normalisiert haben (5). Ende 2016 wurde cholestatischer Ikterus als seltene Nebenwirkung in die Fachinformation von KOK aufgenommen.

Somit können auch neuere KOK mit niedrigeren Hormondosierung eine Leberschädigung mit intrahepatischer Cholestase, aber in der Regel nur geringer Entzündung und Nekrose der Hepatozyten verursachen. Eine Kausalität zwischen den hepatischen Beschwerden und der Einnahme des KOK erscheint mindestens als möglich. Ein protrahierter Verlauf bis zur Erholung ist in vielen Fallberichten beschrieben, chronische Leberschäden oder akutes Leberversagen bislang jedoch nicht. Auch in dem berichteten Fall kann aus den berichteten Befunden (vierstellige Transaminasen, Bilirubin bei 30 mg/dl) nicht ein akutes Leberversagen abgeleitet werden, da formale Angaben zur Leberfunktionsstörungen/Koagulopathie oder hepatischem Koma fehlen bzw. diese Kriterien nicht erfüllt waren.

Das akute Leberversagen (ALV) ist eine seltene Erkrankung mit hoher Mortalität, da es sich als eine schwerwiegende, potenziell reversible Störung der hepatozellulären Funktion bei Patienten ohne präexistente Lebererkrankung und einer Erkrankungsdauer zwischen 12 und 26 Wochen darstellt. Das ALV ist definiert durch:

  • Lebersynthesestörung mit konsekutiver Gerinnungsstörung (INR > 1,5);
  • hepatische Enzephalopathie (6).

Eine aplastische Anämie kann durch eine akute Hepatitis jedweder Genese induziert werden und wurde vor allem bei jüngeren Menschen beschrieben (4;7). Die hier berichtete schwere aplastische Anämie mit wiederholt septischen Erkrankungsepisoden ist als eine sehr seltene Komplikation der Hepatitis anzusehen und steht hier in der Kausalkette. Hier ist eine seltene Komplikation der Medikation mit einer sehr seltenen Komplikation der induzierten Hepatitis vergesellschaftet. Diese Koinzidenz ist nicht als Kausalität im Sinne einer Nebenwirkung des KOK anzusehen.

Fazit für die Praxis

Anwenderinnen von KOK sollten auf mögliche klinische Zeichen einer Leberschädigung wie Juckreiz, Ikterus und Abgeschlagenheit achten und sich beim Auftreten ärztlich vorstellen. Verdachtsfälle von Nebenwirkungen unter KOK sollten der AkdÄ mitgeteilt werden.

Literatur

  1. MEDA Pharma GmbH & Co. KG: Fachinformation „Evaluna® 20“. Stand: September 2021.
  2. Navarro VJ, Senior JR: Drug-related hepatotoxicity. N Engl J Med 2006; 354: 731-739.
  3. LiverTox: Clinical and Research Information on Drug-Induced Liver Injury: Estrogens and Oral Contraceptives: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK548539/ (letzter Zugriff: 29. August 2022). Stand: 28. Mai 2020.
  4. Schrezenmeier H, Brümmendorf TH, Deeget HJ et al.: Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. (DGHO) (Hrsg.): Aplastische Anämie. Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen: www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/aplastische-anaemie/@@guideline/html/index.html (letzter Zugriff: 29. August 2022). Onkopedia-Leitlinien, August 2018.
  5. MEDA Pharma GmbH & Co. KG: Fachinformation „Evaluna® 20“. Stand: Juli 2016.
  6. Rutter K, Horvatits T, Drolz A et al.: Akutes Leberversagen [Acute liver failure]. Med Klin Intensivmed Notfmed 2018; 113: 174-183.
  7. Qureshi K, Sarwar U, Khallafi H: severe aplastic anemia following acute hepatitis from toxic liver injury: literature review and case report of a successful outcome. Case Reports Hepatol 2014: 216570.

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, keine Interessenkonflikte zu haben.