AMNOG – was ist das eigentlich? Und hat es etwas mit meiner praktischen Tätigkeit zu tun?
Seit 2011 ist in Deutschland das ArzneimittelMarktNeuOrdungsGesetz (AMNOG) in Kraft. Was verbirgt sich hinter diesem gesetzgeberischen Wortungetüm? Vorstand und Mitglieder der AkdÄ haben so viel mit dem durch dieses Gesetz geregelten Verfahren zu tun, dass es angebracht erscheint, den Lesern von AVP darüber zu berichten – in aller Ausführlichkeit in einem Expertenartikel in dieser Ausgabe (B. Bickel: Frühe Nutzenbewertung nach AMNOG und Auswirkungen auf die Vertragsärzte; Seite 39–43).
Warum dazu noch ein Editorial? Weil auch zwischen den Zeilen viel gelesen werden muss, weil die Hintergründe vielschichtig und die Versuche, auf politischer und Lobbyismusebene das Verfahren zu beeinflussen, vielfältig sind.
Man wäre bestenfalls naiv, wenn man den Informationen der pharmazeutischen Unternehmen zum Innovationsgehalt ihrer Entwicklungsprodukte Glauben schenken würde. Vielleicht eine von zehn Neueinführungen eines Arzneimittels verdient das Attribut Innovation. Die überwiegende Mehrheit besteht aus sogenannten Scheininnovationen: Vielleicht ist das Molekül oder die Substanzklasse neu, vielleicht der pharmakologische Wirkmechanismus. Aber Ärztinnen und Ärzte interessiert viel mehr, was am Ende des Tages für ihre Patienten an klinisch relevantem Nutzen übrig bleibt. Und die Gemeinschaft der Versicherten leidet darunter, dass echte Innovationen und Scheininnovationen eines gemeinsam haben: Sie sind teuer. Der Preis ist um ein Vielfaches höher als der der Vergleichspräparate – wenn es sich um bewährte generische Wirkstoffe handelt.
Das grundsätzliche Problem ist, dass ein pharmazeutischer Unternehmer für eine Arzneimittelneueinführung nur nachweisen muss, dass die Nutzen-Risiko-Bilanz nicht schlechter ist als die der bisher für diese Indikation verfügbaren Vergleichspräparate. Und meist erfolgt das anhand von Surrogatparametern wie z. B. Cholesterinwert oder progressionsfreies Überleben. Ob also der Patient wirklich davon profitiert, ist unklar.
Das muss nach den Regeln der freien Marktwirtschaft vielleicht akzeptiert werden, nicht aber nach den Regeln des Wirtschaftlichkeitsgebotes in einer Versichertengemeinschaft, die auf eine rationale und rationelle Medizin gleichermaßen achten muss, damit für alle Mitglieder eine maximale Versorgung gesichert bleibt. Dies hatte den Gesetzgeber bewogen, das AMNOG einzuführen, das die bisherige freie Preisgestaltung der pharmazeutischen Unternehmer einschränkt.
Deutschland ist nicht das erste Land, das eine Preisregulierung bei patentgeschützten Arzneimitteln einführt. Große europäische Länder wie Frankreich und England praktizieren dies seit vielen Jahren. Allerdings ist das AMNOG die bisher stringenteste Variante der Preisregulierung im internationalen Vergleich. Wie im o. g. Artikel dieses Heftes nachzulesen, erfolgt die Bewertung des Zusatznutzens nach transparenten und klar an der klinischen Relevanz ausgerichteten Kriterien. Doch der Teufel steckt, wie immer, im Detail.
Die Mehrzahl der Arzneimittelentwicklungen der letzten Jahre sind hämatologisch-onkologische Arzneimittel oder Arzneimittel für seltene Krankheiten. Hier ist es meist schon schwierig, die richtige Vergleichstherapie, also den therapeutischen Standard zu definieren, mit dem das zu prüfende Arzneimittel verglichen werden müsste, um seinen patientenrelevanten Zusatznutzen prüfen zu können. Oft wandelt sich in diesen Indikationen der Therapiestandard so rasch, dass kaum noch eine praxisnahe und klinisch relevante Festlegung möglich ist. Oder aber die innerhalb der klinischen Studien behandelten Patienten waren aufgrund von Einschluss- und Ausschlusskriterien so selektioniert, dass eine Übertragung der Beobachtungen auf den „Alltagspatienten“ fragwürdig ist.
Aber auch bei den klassischen Standardindikationen gibt es Schwierigkeiten, die im Rahmen des AMNOG-Verfahrens erfolgten Beschlüsse in die Praxis umzusetzen. Da sind einmal die hohe Differenzierung des Ausmaßes des Zusatznutzens und die Stärke des wissenschaftlichen Belegs. Bedeutet ein „Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen“ tatsächlich einen medizinischen Fortschritt? Darüber hinaus kann „gering“ einerseits bedeuten, dass der Effekt zu beobachten, aber im Ausmaß eben gering ist, andererseits, dass er nur bei wenigen Patienten auftritt, dann aber klinisch relevant ist. So liegt das geringe Ausmaß des Zusatznutzens bei den Gliptinen darin begründet, dass nur die Diabetiker, bei denen eine normnahe Blutzuckereinstellung geboten erscheint, davon profitieren sollen. Wer aber genau das sein soll, bleibt unklar. Ähnlich verhält es sich bei den Nicht-VKA oralen Antikoagulanzien (NOAK), die das Arzneimittelbudget der Krankenversicherungen erheblich belasten, obwohl sie so vielen Unsicherheiten unterliegen, dass eine gut gerinnungsadaptierte Prophylaxe mit Phenprocoumon oder Warfarin bei den meisten Patienten nach wie vor die bessere therapeutische Entscheidung ist.
Nach Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über den Zusatznutzen eines Arzneimittels werden Preisverhandlungen direkt zwischen dem pharmazeutischen Unternehmen und den Spitzenverbänden der Krankenkassen geführt. Diese Verhandlungen sind intransparent, finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und führen häufig zu einer überraschend geringen Kostenentlastung für die Versicherten.
Ohne jede Frage besteht also noch Nachbesserungsbedarf, damit die grundsätzlich hervorragende Regulierung durch das AMNOG in Zukunft die Ziele erreicht, für die es konzipiert wurde: der Versichertengemeinschaft eine optimale Gesundheitsversorgung zu sichern und sie vor überflüssigen Ausgaben zu bewahren.
Interessenkonflikte
Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.