Frühe Nutzenbewertung nach AMNOG und Auswirkungen auf die Vertragsärzte

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2016

Autorin
  • Britta Bickel, Berlin, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Dezernat 4, Geschäftsbereich Ärztliche und veranlasste Leistungen, Abteilung Arzneimittel, BBickel@kbv.de

Zusammenfassung

Hintergrund, Funktionsweise und Auswirkungen der frühen Nutzenbewertung auf den Vertragsarzt aus der Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung werden dargestellt. Will man mögliche Arzneimittelregresse vermeiden, sind die entsprechenden Beschlüsse des G-BA zu beachten.

Abstract

Background, mode of operation and consequences of the early appraisal of the benefit of new drugs are discussed from the point of view of the German National Association of Statutory Health Insurance Physicians. To avoid recourses for drugs it is necessary to take into account relevant resolutions of the G-BA.

Hintergrund der frühen Nutzenbewertung

Bis zum Jahr 2011 konnten pharmazeutische Unternehmer die Preise für ihre Medikamente frei festlegen. Mit Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) muss jedes Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff eine frühe Nutzenbewertung im Vergleich zum Therapiestandard durchlaufen. Diese frühe Nutzenbewertung bildet die Grundlage für den neuen Preis des Medikaments.

Wie funktioniert die frühe Nutzenbewertung?

Mit der Markteinführung müssen die pharmazeutischen Unternehmen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein Dossier vorlegen, in dem die Ergebnisse aller relevanten Studien zu dem neuen Wirkstoff aufbereitet sind (1). In der Regel beauftragt der G-BA das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit der Bewertung des Dossiers. Das IQWIG führt in seinem Gutachten die Vor- und Nachteile des neuen Wirkstoffs im Vergleich zur jeweils zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) auf. Diese Bewertung wird drei Monate nach Inverkehrbringen des Arzneimittels veröffentlicht. Pharmazeutischen Unternehmen, Verbänden der Industrie, Fachgesellschaften sowie der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) wird die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dieser Nutzenbewertung eingeräumt. Der G-BA fasst spätestens sechs Monate nach Markteinführung des Arzneimittels einen Beschluss, in dem er das Ausmaß des Zusatznutzens bestimmt. Dieses Ausmaß kann unterschiedliche Kategorien annehmen, die in der Nutzenbewertungsverordnung (2) definiert sind.

Tabelle 1: Unterschiedliche Kategorien nach Nutzenbewertungsverordnung (nach (2))

Darüber hinaus unterteilt der G-BA die Wahrscheinlichkeit bzw. die Aussagesicherheit des Zusatznutzens in Beleg, Hinweis und Anhaltspunkt. Mit Wahrscheinlichkeit ist die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit der Aussage über das Vorhandensein eines Zusatznutzens gemeint, die sich aus der Evidenzlage ableiten lässt.

Erstattungsbetrag des neuen Arzneimittels (3)

Das Ausmaß des Zusatznutzens eines Medikaments bestimmt seinen Erstattungsbetrag. Sofern ein Arzneimittel keinen belegten Zusatznutzen besitzt, jedoch festbetragsgruppenfähig ist, wird es in eine bestehende Festbetragsgruppe eingeordnet. Das Medikament erhält den Festbetrag.

Für einen Wirkstoff ohne Zusatznutzen, der nicht in eine Festbetragsgruppe eingegliedert werden kann, vereinbaren GKV-Spitzenverband und pharmazeutischer Unternehmer einen Erstattungsbetrag. Dieser darf jedoch nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die der zVT. Für Arzneimittel mit Zusatznutzen finden ebenfalls Preisverhandlungen statt. Eine Vereinbarung soll neben dem Erstattungsbetrag auch Anforderungen an die Zweckmäßigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit beinhalten. Gleichzeitig soll der Vertrag auch regeln, dass Arzneimittel mit Zusatznutzen als Praxisbesonderheit im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung anerkannt werden. Bis zum November 2015 wurden jedoch nur sieben Wirkstoffe als Praxisbesonderheit vereinbart.

Die Verhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und pharmazeutischem Unternehmer sind spätestens sechs Monate nach dem G-BA-Beschluss abzuschließen. Kommt eine Einigung nicht zustande, entscheidet eine Schiedsstelle innerhalb von weiteren drei Monaten. Der durch die Schiedsstelle festgelegte Erstattungsbetrag gilt dann rückwirkend ab einem Jahr nach Markteinführung. Erstattungsbeträge sind in Arzt- und Apothekensoftware hinterlegt. Sie gelten für die private Krankenversicherung gleichermaßen. Darüber hinaus können einzelne Krankenkassen Preisvereinbarungen treffen, die von dem vom GKV-Spitzenverband und pharmazeutischen Unternehmer vereinbarten oder durch Schiedsspruch erzielten Erstattungsbetrag abweichen.

Abbildung 1: Bewertung des (Zusatz-)Nutzens

Welche Auswirkungen hat die frühe Nutzenbewertung auf die Vertragsärzte?

Für Vertragsärzte ist die frühe Nutzenbewertung von besonderer Bedeutung: Der Stellenwert eines neuen Medikaments im Vergleich zum Therapiestandard wird bereits zu einem frühen Zeitpunkt transparent. Der Vertragsarzt erhält Kenntnis, welche Patientengruppen von der neuen Therapie besonders profitieren und welche Anforderungen an eine qualitätsgesicherte Anwendung zu beachten sind.

Welche Anforderungen an eine wirtschaftliche Verordnungsweise sind zu beachten?

Hierbei sind grundsätzlich drei Phasen zu unterscheiden:

Phase 1: Markteintritt bis G-BA-Beschluss

Bis zum G-BA-Beschluss gelten für neue Arzneimittel die allgemeinen Anforderungen für die Verordnungsfähigkeit, insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V. Damit ist ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich zulasten der GKV verordnungsfähig, sofern dieses verschreibungspflichtig ist und nicht einem gesetzlichen oder einem Verordnungsausschluss nach der Arzneimittel-Richtlinie unterliegt. Die Verordnung kann unwirtschaftlich sein, wenn es bei therapeutisch gleichwertigen Behandlungsalternativen eine kostengünstigere Therapieoption gibt. Es besteht jedoch zu diesem Zeitpunkt eine erhöhte Beweis- und Darlegungslast durch die Prüfungsstelle.

Phase 2: G-BA-Beschluss bis Vereinbarung Erstattungsbetrag

Solange noch kein Erstattungsbetrag feststeht, kann insbesondere die Verordnung von Arzneimitteln ohne Zusatznutzen oder in Teilindikationen ohne Zusatznutzen unwirtschaftlich sein, sofern das Arzneimittel teurer als die zVT ist. Aber auch für Medikamente mit Zusatznutzen ist die Situation zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer gegebenenfalls höheren Preise im Verhältnis zur Vergleichstherapie mitunter unklar.

Phase 3: Nach Verhandlung des Erstattungsbetrags

Sofern für ein Arzneimittel ohne Zusatznutzen der Erstattungsbetrag auf den Preis der zVT festgelegt wird, ist das neue Arzneimittel aufgrund der gesetzlichen Vorgaben grundsätzlich als wirtschaftlich anzusehen.

Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen und einem Erstattungsbetrag über dem Preis der zVT ist dagegen die Wirtschaftlichkeit der Verordnung differenziert zu beurteilen. Dies liegt darin begründet, dass der G-BA den Zusatznutzen des neuen Wirkstoffs häufig nach Subgruppen unterscheidet. Dabei wird in vielen Fällen für einzelne Subgruppen ein Zusatznutzen festgestellt, für andere jedoch nicht. Bei einem indikationsgerechten Einsatz eines Arzneimittels mit einem Zusatznutzen über das gesamte Anwendungsgebiet oder in einer Subpopulation mit hohem Zusatznutzen ist von einer wirtschaftlichen Verordnung auszugehen. Krankenkassen stufen die Verordnung für Subgruppen ohne Zusatznutzen häufig als unwirtschaftlich ein, obwohl der vereinbarte Erstattungsbetrag als Mischpreis auch diese Subgruppen berücksichtigt. Krankenkassen haben bereits in solchen Konstellationen Einzelfallprüfanträge gestellt. So gab es bereits Prüfanträge für Medikamente zur Behandlung der Hepatitis C in bestimmten Subgruppen (Genotypen), für die der Zusatznutzen nach Beschluss des G-BA nicht belegt ist. In diesen Subgruppen gab es zum Teil keine Daten. Die europäische Zulassungsbehörde ging jedoch von einer Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf diese Patientenpopulationen aus.

Aber auch in anderen Indikationen kann diese Auslegung der Krankenkassen Auswirkungen auf die Versorgung haben: Für Ipilimumab (Yervoy®), das zur Behandlung des fortgeschrittenen nicht resezierbaren oder metastasierten Melanoms zugelassen ist, hat der G-BA Im Jahr 2012 in der Second-Line-Behandlung einen Hinweis auf einen beträchtlichen Zusatznutzen gegenüber Best Supportive Care festgestellt. Der G-BA hat aufgrund einer Zulassungserweiterung die Anwendung in der First-Line-Therapie, d. h. nicht vorbehandelte Patienten, neu bewertet. Hier konnte der Zusatznutzen für Patienten ohne eine BRAF-V600-Mutation gegenüber der zVT Dacarbazin nicht belegt werden, da keine ausreichenden Daten vorhanden waren. Bei einem großen Anteil der nicht vorbehandelten Patienten müssen die Ärzte nun Sorge haben, dass der Einsatz von Ipilimumab aus Sicht der Krankenkassen unwirtschaftlich ist, da die Kosten von Ipilimumab über denen von Dacarbazin liegen. Gleichwohl ist bekannt, dass für Dacarbazin keine Verlängerung des Überlebens nachgewiesen wurde, die Substanz toxisch ist und zudem Ipilimumab als Immuntherapeutikum schlechter wirkt, wenn zuvor – gegebenenfalls aufgrund des Preises – zunächst eine Chemotherapie eingesetzt wird.

Auch im Fall von Apixaban (Eliquis®) zur Behandlung und Prophylaxe von tiefen Venenthrombosen (TVT) und Lungenembolien (LE) wird die Problematik besonders deutlich. Der G-BA hat in der Initialbehandlung einer TVT bzw. einer LE plus parallel einzuleitender Prophylaxe bis zu sechs Monate einen Hinweis auf einen geringen Zusatznutzen vor dem Hintergrund eines geringeren Blutungsrisikos gegenüber Vitamin-K-Antagonisten (VKA) festgestellt. Für die Langzeitprophylaxe (> sechs Monate) lagen jedoch keine Daten vor, sodass der Zusatznutzen nicht belegt ist. Das Infragestellen der Wirtschaftlichkeit in der Subgruppe ohne belegten Zusatznutzen durch Krankenkassen hat zur Folge, dass Ärzte die Patienten nach sechs Monaten Therapie mit Apixaban auf VKA umstellen müssten − auf eine Therapie, die mit einem höheren Blutungsrisiko assoziiert sein kann. Um dieses Problem zu entschärfen, sieht der Beschluss des G-BA in der qualitätsgesicherten Anwendung folgenden Passus vor: „Für Patienten, für die nach Einschätzung des Arztes eine Umstellung auf Vitamin-K-Antagonisten, vor allem unter dem Aspekt der mit der Umstellung verbundenen Gefährdung der Patienten, nicht in Frage kommt, aber eine weiterführende Prophylaxe (über 6 Monate hinaus) geboten ist, kann die Fortführung der Therapie mit Apixaban angezeigt sein“.

Die KBV hält eine Klarstellung durch den Gesetzgeber dahin gehend für dringend erforderlich, dass der Erstattungsbetrag die Wirtschaftlichkeit über alle Anwendungsgebiete und damit auch für die Subgruppen ohne Zusatznutzen herstellt. Nur dann ist eine Verordnungssicherheit für die Ärzte gegeben.

Einen wirkstoffbezogenen Überblick über die Inhalte der Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung und das Ausmaß des Zusatznutzens in den einzelnen Subgruppen bietet der Arzneimittelinfoservice der KBV, der unter www.arzneimittelinfoservice.de abrufbar ist.

Fazit für die Praxis

Seit Januar 2011 hat der G-BA den gesetzlichen Auftrag, den Zusatznutzen von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen im Vergleich zum Therapiestandard zu bewerten. Auf der Basis der frühen Nutzenbewertung vereinbaren GKV-Spitzenverband und pharmazeutischer Unternehmer den Preis des neuen Medikamentes. Für Vertragsärzte ist die frühe Nutzenbewertung von besonderer Bedeutung: Der Stellenwert eines neuen Medikamentes im Vergleich zum Therapiestandard wird bereits zu einem frühen Zeitpunkt transparent. Der Vertragsarzt erhält Kenntnis, welche Patientengruppen von der neuen Therapie besonders profitieren und welche Anforderungen an eine qualitätsgesicherte Anwendung zu beachten sind. Die Bewertungen zum Zusatznutzen eines Wirkstoffes sehen jedoch einige Krankenkassen als Grundlage, die Wirtschaftlichkeit einer Verordnung zu hinterfragen. In einigen Fällen gab es bereits Prüfanträge, wenn das Arzneimittel für Patienten aus einer Subgruppe verordnet wurde, für die der Zusatznutzen nicht belegt ist. Diese Auslegung der Krankenkassen kann Auswirkungen auf die Versorgung haben, wie beispielsweise in den Indikationen Hepatitis C und Melanom. Aus Sicht der KBV ist eine Klarstellung des Gesetzgebers erforderlich, um eine Verordnungssicherheit für die Ärzte zu gewährleisten.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.

Literatur
  1. Sozialgesetzbuch V: § 35a – Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen:http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/35a.html
  2. Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vom 28. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2324), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 27. März 2014 (BGBl. I S. 261) geändert worden ist:http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/am-nutzenv/gesamt.pdf
  3. Sozialgesetzbuch V: § 130b – Vereinbarungen zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmern über Erstattungsbeträge für Arzneimittel:http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/130b.html