Frühe Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln: Wie früh ist zu früh? Das Beispiel Fingolimod (Gilenya®)

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2016

Autorin

Gilenya® (Fingolimod) wurde nach einem positiven Gutachten (positive opinion) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im Jahr 2011 für die Behandlung der hochaktiven, schubförmig-remittierend verlaufenden Multiplen Sklerose (RRMS) zugelassen. Die Zulassung beschränkt sich auf Patienten mit einer rasch fortschreitenden, schweren RRMS und auf Patienten, die trotz Vorbehandlung eine hohe Krankheitsaktivität aufweisen.

Die Zulassung basiert auf zwei randomisierten klinischen Studien (1;2) mit jeweils ca. 1300 Patienten, die über ein bzw. zwei Jahre behandelt wurden. Für die Untersuchung der Sicherheit lagen Daten von etwa 2600 Patienten der Safety Population vor, etwa 1800 Patienten hatten das Arzneimittel über mindestens ein Jahr erhalten (3). Dies entspricht in etwa dem Datenumfang, der auch für andere neue Arzneimittel zur Verfügung steht. So hatte eine Analyse über die Verfügbarkeit von Daten bei Zulassung gezeigt, dass bei 39 Arzneimitteln im Median etwa 1700 Patienten über die Dauer von einem Jahr in der Sicherheitspopulation untersucht worden waren (4).

Es ist bekannt, dass Risiken zum Zeitpunkt der Zulassung noch unzureichend erfasst sein können. Beispielsweise weil sie erst nach längerer Exposition, zeitlich verzögert oder sehr selten auftreten (5). Für die Risikobewertung sind die Anzahl der vor Zulassung mit dem Arzneimittel behandelten Patienten und die Beobachtungsdauer von Bedeutung. Tritt eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) auch unabhängig vom neuen Arzneimittel auf (d. h. es gibt eine „Hintergrund-Inzidenz“) und ist unter der Einnahme des neuen Arzneimittels lediglich häufiger, kann es sehr große Patientenzahlen erfordern, um sie zu entdecken (6). Daher werden seltene UAW häufiger erst im zeitlichen Abstand zur Zulassung mittels Auswertung von Post-Marketing-Surveillance-Studien oder von Meldungen an das Spontanmeldesystem bekannt.

Die EMA hatte 2011 das Nichterteilen einer Zulassung in der vom Hersteller beantragten First-line-Indikation mit Sicherheitsbedenken der immunsuppressiven Fingolimodtherapie begründet, darunter die möglicherweise erhöhte Frequenz und Schwere von Infektionen und das gehäufte Auftreten von Krebserkrankungen (3). Auch der G-BA hatte u. a. aufgrund offener Fragen zum Sicherheitsprofil von Fingolimod seinen Beschluss zur frühen Nutzenbewertung aus dem Jahr 2012 auf die Dauer von drei Jahren befristet (7) und im April 2015 die Neubewertung nach Fristablauf begonnen. Zum aktuellen Zeitpunkt (Stand: September 2015) steht der G-BA-Beschluss noch aus.

Wie nach Zulassung üblich, werden die Risiken von Fingolimod fortlaufend mittels Routine-Pharmakovigilanz-Aktivitäten und Post-Marketing-Surveillance-Studien untersucht. Finale Ergebnisse dieser PMS-Studien werden jedoch teilweise erst Ende 2020 erwartet (8). Am 04.05.2015 informierte der Hersteller mit einem Rote-Hand-Brief, dass im Februar 2015 eine Progressive Multifokale Leukenzephalopathie (PML) bei einem MS-Patienten berichtet wurde, der mehr als vier Jahre lang mit Fingolimod behandelt worden war. Dieser Fall, der asymptomatisch verlief, war mittels des Spontanmeldesystems erfasst worden (9).

Bereits im März 2015 lagen dem Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der EMA zwölf weitere Fälle von PML unter Fingolimod vor – darunter waren im Gegensatz zu dem im Mai veröffentlichten Fall aber ausschließlich Patienten, die eine Vorbehandlung mit einem anderen Immunsuppressivum (z. B. Natalizumab) erhalten hatten, das die PML (mit)bedingt haben könnte (10).

In das Spontanmeldesystem können alle UAW gemeldet werden, die unter der Einnahme eines Arzneimittels auftreten. Damit können weitaus mehr Patienten erfasst werden als mittels klinischer Studien. Somit ist dieses System besonders gut geeignet, frühzeitig Risikosignale zu generieren. Für den Nachweis eines Kausalzusammenhangs ist es allerdings weniger gut geeignet, z. B. da unter den gemeldeten Fällen andere Ursachen für das Auftreten der UAW in Frage kommen und eine Kontrollgruppe fehlt.

Fazit

Die PML ist eine sehr seltene aber schwerwiegende UAW. Ein Kausalzusammenhang mit Fingolimod ist jedoch selbst vier Jahre nach Zulassung dieses neuen Arzneimittels noch nicht eindeutig belegt.

Die PML ist ein Beispiel für eine UAW, die aufgrund ihrer sehr niedrigen Inzidenz und ihrer verzögert auftretenden Symptomatik erst bei Einsatz in der Routineversorgung evident wird.

Das Beispiel verdeutlicht, dass aufgrund von schwerwiegenden, aber sehr selten auftretenden UAW die abschließende Bewertung des vergleichenden Schadens kurz nach Zulassung noch verfrüht sein kann. In diesen Fällen benachteiligt eine vergleichende Bewertung die bereits länger bekannten Arzneimittel. In die Bewertung vorhandener Risiken sollte zudem eingehen, ob geeignete Strategien zu deren Minimierung zur Verfügung stehen (wie z. B. EKG-Überwachung während der Therapieeinleitung bei kardialen Risiken).

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.

Literatur
  1. Cohen JA, Barkhof F, Comi G et al.: Oral fingolimod or intramuscular interferon for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 402-415.
  2. Kappos L, Radue EW, O'Connor P et al.: A placebo-controlled trial of oral fingolimod in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 387-401.
  3. European Medicines Agency (EMA): Gilenya® (Fingolimod): European Public Assessment Report (EPAR) (Assessment Report): Doc.Ref.: EMA/108602/2011.http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/002202/WC500104529.pdf
  4. Ujeyl M, Schlegel C, Walter S, Gundert-Remy U: New drugs: evidence relating to their therapeutic value after introduction to the market. Dtsch Arztebl Int 2012; 109: 117-123.
  5. Waller PC, Tilson HH: Managing drug safety issues with marketed products. In: Talbot J, Waller P (Hrsg.): Stephen’s detection of new adverse drug reactions. 5. Aufl., Chichester: John Wiley & Sons Ltd, 2004; 345-374.
  6. Loke YK, Price D, Herxheimer A: Adverse effects. In: Higgins JPR, Green S (Hrsg.): Cochrane handbook of systematic reviews. Chichester: Wiley-Blackwell, 2008; 433-448.
  7. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V – Fingolimod:https://www.g-ba.de/downloads/40-268-1947/2012-03-29_AM-RL-XII_Fingolimod_ZD.pdf
  8. European Medicines Agency (EMA): Gilenya® – Fingolimod: European Public Assessment Report (EPAR) (Assessment Report):http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Assessment_Report_-_Variation/human/002202/WC500169449.pdf
  9. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Rote-Hand-Brief zu Gilenya® (Fingolimod): erster Bericht einer PML bei einem MS-Patienten ohne vorherige Behandlung mit immunsuppressiven Arzneimitteln. AkdÄ Drug Safety Mail 14-2015 vom 4. Mai 2015.
  10. European Medicines Agency (EMA): Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC): Minutes of the meeting on 09-12 March 2015:http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Minutes/2015/04/WC500185968.pdf