Akutes Leberversagen unter Glatirameracetat

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2016

Autor

Zusammenfassung

Glatirameracetat kann nicht nur Leberwerterhöhungen, sondern – selten – auch ein akutes Leberversagen hervorrufen. Die Fachinformation des Herstellers und die Empfehlungen zur Therapieüberwachung im Qualitätshandbuch des Kompetenznetzes Multiple Sklerose sollten entsprechend angepasst werden.

Abstract

Glatiramer acetate can cause not only elevation of liver enzymes but also acute liver failure. The product information of the manufacturer and the recommendations for therapy supervision in the manual of the multiple sclerosis competence network should be adapted accordingly.

Glatirameracetat ist zugelassen zur Behandlung von Patienten mit einer klar definierten ersten klinischen Episode bei Multipler Sklerose (MS) und einem hohen Risiko, eine klinisch gesicherte MS zu entwickeln („clinically definite multiple sclerosis“, CDMS), sowie zur Reduktion der Schubfrequenz bei Patienten mit schubförmig remittierender MS. Positive Auswirkungen auf die Erkrankungsprogression oder Wirksamkeit bei Patienten mit progressiver MS sind nicht belegt (1). Glatirameracetat gehört neben Beta-Interferonen zu den „disease modifying treatments“ bei MS mit Modifikation von T-Zellfunktion und Immunität. Auch wenn Beta-Interferone mit 13,8 Mio. DDD die am häufigsten verordnete Medikamentengruppe darstellen, ist Glatirameracetat unter dem Handelsnamen Copaxone® das mit 5,8 Mio. DDD am häufigsten verschriebene Einzelpräparat.

Wir berichten den Fall einer Patientin mit Multipler Sklerose, die während der Therapie mit Glatirameracetat eine nekrotisierende Hepatitis entwickelte.

Im Juni 2013 wird bei der Patientin die erste Diagnose einer multiplen Skerose gestellt. Im Dezember 2013 erfolgen aufgrund eines Schubereignisses mit Bulbus-Bewegungsschmerz und Gesichtsfeldsbeeinträchtigung eine Kortisonstoßtherapie sowie die Einleitung einer Therapie mit Glatirameracetat. Im Februar 2014 sind erstmals erhöhte Transaminnasen dokumentiert (GOT 178 U/l, GPT 358 U/l). Die Patientin leidet zu dieser Zeit unter Schwindel und Konzentrationsschwierigkeiten sowie Episoden mit Übelkeit. Im März 2014 wird daher eine stationäre, integriert neurologische und psychotherapeutische Behandlung eingeleitet. Unter den Zeichen einer akuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit Sklerenikterus, epigastrischem Druckschmerz und Braunfärbung des Urins wird die Patientin am 29.03.2014 auf die Intensivstation eines Akutkrankenhauses verlegt. Die GOT beträgt zu diesem Zeitpunkt 2300 U/l, die GPT 2361 U/l bei einem Gesamtbilirubin von 6,19 mg/dl und einer Erhöhung der INR auf 1,67. Histologisch besteht eine „ausgeprägte chronische und aktive, nekrotisierende Hepatitis mit ausgeprägter Grenzzonenaktivität und beginnender Fibrose“. Hinweise auf eine virale oder autoimmune Genese, auf eine Hämochromatose oder einen Morbus Wilson ergeben sich nicht. Die Patientin erhält Kortikosteroide und Antibiotika. Im Verlauf kommt es zu einer klinischen und laborchemischen Restitutio ad integrum.

Zur vorliegenden Falldokumentation ist einschränkend festzuhalten, dass kein direkter Hepatitis-C-Virusnachweis als PCR und keine Hepatitis-E-Serologie vorliegen. In seltenen Fällen kann das ebenfalls verordnete Citalopram Leberwerterhöhungen verursachen, die aber in der Regel nicht mit schweren Hepatitiden assoziiert sind. Unter Anwendung des RUCAM-Scores erscheint bei einem hier erreichten Punktwert von 7 der Zusammenhang der Glatirameracetat-Medikation mit der eingetretenen Hepatitis wahrscheinlich (3;4). Akute oder chronische Hepatitiden sind unter Glatirameracetat mehrfach beschrieben. Diese wurden teilweise als medikamentös-toxisch klassifiziert, teilweise wurde auch eine Demaskierung einer Autoimmunhepatitis unter dem Präparat beschrieben (5-9). Insbesondere der Umstand, dass hier bereits sechs Wochen vor der akuten, schweren Hepatitis eine Erhöhung der Transaminasen dokumentiert wurde, hat den Ausschuss „Unerwünschte Arzneimittelwirkungen“ der AkdÄ bewogen, diesen Fall zur Publikation in der „AVP – Arzneiverordnung in der Praxis“ vorzusehen.

Fazit

Unter Glatirameracetat sind initial sechswöchentliche und im weiteren Verlauf dreimonatliche Kontrollen der Leberwerte indiziert. Glatirameracetat ist bei Erhöhung der Transaminasen abzusetzen, da es im Einzelfall eine schwere Leberschädigung verursachen kann. Das Kompetenznetz MS empfiehlt in seinem Qualitätshandbuch zu Glatirameracetat die o. g. regelmäßigen Leberwertkontrollen (10). Ein Hinweis auf eine (seltene) potenziell lebensbedrohliche Hepatitis fehlt hier ebenso wie in der Fachinformation des Herstellers (11).

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. La Mantia L, Munari LM, Lovati R: Glatiramer acetate for multiple sclerosis. Cochrane Database Syst Rev 2010; Issue 5: CD004678.
  2. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2014. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2014.
  3. Voican CS, Corruble E, Naveau S, Perlemuter G: Antidepressant-induced liver injury: a review for clinicians. Am J Psychiatry 2014; 171: 404-415.
  4. Danan G, Benichou C: Causality assessment of adverse reactions to drugs – I. A novel method based on the conclusions of international consensus meetings: application to drug-induced liver injuries. J Clin Epidemiol 1993; 46:1323-1330.
  5. Benichou C, Danan G, Flahault A: Causality assessment of adverse reactions to drugs – II. An original model for validation of drug causality assessment methods: case reports with positive rechallenge. J Clin Epidemiol 1993; 46: 1331-1336.
  6. Pulicken M, Koteish A, DeBusk K, Calabresi PA: Unmasking of autoimmune hepatitis in a patient with MS following interferon beta therapy. Neurology 2006; 66: 1954–1955.
  7. Neumann H, Csepregi A, Sailer M, Malfertheiner P: Glatiramer acetate induced acute exacerbation of autoimmune hepatitis in a patient with multiple sclerosis. J Neurol 2007; 254: 816–817.
  8. Deltenre P, Peny MO, Dufour A et al.: Acute hepatitis induced by glatiramer acetate. BMJ Case Rep. 2009; 2009: bcr09.2008.0913.
  9. Subramaniam K, Pavli P, Llewellyn H, Chitturi S: Glatiramer acetate induced hepatotoxicity. Curr Drug Saf 2012; 7: 186–188.
  10. Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. V.: Multiple Sklerose: Hinweise zur Therapie mit Glatirameracetat als App:http://www.dmsg.de/mobil/index.php?kategorie=therapien&anr=5477
  11. Teva Pharma GmbH: Fachinformation „Copaxone 20 mg/ml-Injektionslösung in einer Fertigspritze“:www.pharmazie.com/graphic/A/80/1-25380.pdf