Berichte an die AkdÄ über Stürze unter der Einnahme von Methadon: Was muss beachtet werden? („Aus der UAW-Datenbank“)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 20, 17.05.2019

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 20, 17.05.2019

Der AkdÄ wurden folgende Fälle berichtet:

Fall 1

Der Fall betrifft eine 56-jährige Frau mit einem Glioblastom WHO Grad IV, das 2015 erstmalig diagnostiziert und sowohl operativ als auch durch Bestrahlungen und medikamentös mit Temozolomid behandelt wurde. Seit etwa Anfang 2017 nahm die Patientin 26 mg Methadonlösung pro Tag zur Tumortherapie ein. Unter dieser Behandlung stürzte sie auf die rechte Hüfte. Sie konnte nach dem Sturz zunächst noch normal laufen, etwa eine Woche später entwickelten sich jedoch eine eingeschränkte Beweglichkeit und Belastbarkeit des rechten Beins, die von den Angehörigen zunächst als neurologische Anzeichen eines Tumorprogresses gedeutet wurden. Erst drei Wochen nach dem Sturz wurde bei einer geplanten Aufnahme auf eine Palliativstation aufgrund von Schmerzen und Immobilität eine radiologische Diagnostik durchgeführt und eine mediane Schenkelhalsfraktur festgestellt, die dann operativ behandelt wurde. Die Kommunikation mit der Patientin war aufgrund einer Aphasie als Folge der Tumorerkrankung bereits erschwert und unter Methadon war die Patientin nicht in der Lage, klare Angaben zu Schmerzen zu machen. Die behandelnden Ärzte gingen davon aus, dass so die laufende Methadonbehandlung die Symptome der Fraktur verschleiert hatte.

Fall 2

Im zweiten Fall geht es um einen 59-jährigen Patienten, bei dem ein Glioblastom multiforme WHO Grad IV reseziert worden war. Parallel zu einer nachfolgenden Radiochemotherapie mit Temozolomid nahm der Patient in der Hoffnung auf eine antitumoröse Wirksamkeit Methadon ein (genaue Dosierung nicht bekannt). Dies geschah ohne Kenntnis der behandelnden Ärzte, da Familienangehörige ihm das Mittel besorgt hatten. Temozolomid musste aufgrund einer ungewöhnlich schnell aufgetretenen Thrombozytopenie abgesetzt werden. Gleichzeitig traten Übelkeit, Verwirrtheit, Gangunsicherheit und Obstipation auf. Der Verdacht auf eine Tumorprogression oder ein Hirnödem bestätigte sich in der MRT-Diagnostik jedoch nicht. Infolge der Gangunsicherheit des Patienten, der – wie fremdanamnestisch eruiert werden konnte – wohl eine Dosissteigerung von Methadon zugrunde lag, kam es zu einem Sturz mit schwerem Schädelhirntrauma.

Angaben zur Pharmakologie und Zulassung von Methadon

Methadon ist ein synthetischer Opioidrezeptoragonist, der relativ selektiv an die μ-Opioidrezeptoren bindet. Durch Aktivierung des antinozizeptiven, schmerzhemmenden Systems werden die Schmerzempfindung herabgesetzt und nozizeptive Impulse auf spinaler Ebene unterdrückt. Bei höheren Dosen ist – wie bei Morphin – auch eine Bindung an Opioidrezeptoren des κ-, δ-, und σ-Subtyps möglich. Methadon ist ungefähr zweimal potenter als Morphin (1). Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern ist Methadon in Deutschland ausschließlich zugelassen zur Substitutionstherapie bei Opioidabhängigkeit Erwachsener im Rahmen einer entsprechenden medizinischen, sozialtherapeutischen und psychologischen Versorgung (2).

Zu den pharmakologischen Wirkungen von Methadon gehören klassische Opioideffekte wie Sedierung, Verwirrtheit, Schwindel, Euphorie, Miosis, Obstipation, Bronchokonstriktion und Antidiurese (1). Ebenso wurden QT-Verlängerungen mit dem Risiko für Arrhythmien berichtet. Aufgrund der langen und teils recht unterschiedlichen Halbwertszeit besteht zudem die Gefahr von Überdosierungen und Atemdepression.

Methadon wird über verschiedene Isoenzyme des Cytochrom-P450-(CYP450-)Enzymsystems metabolisiert. Die gleichzeitige Anwendung von Arzneimitteln, die CYP450-Isoenzyme wie CYP3A4 oder CYP2C9 beeinflussen, kann zu einer veränderten klinischen Wirksamkeit von Methadon führen und auch Nebenwirkungen verstärken oder verlängern (3).

Fraglicher antiproliferativer Effekt von Methadon in der Tumortherapie

Ein fraglicher antiproliferativer Effekt von Methadon in der Tumortherapie wird in Deutschland seit einigen Jahren in den Laien- und Fachmedien kontrovers diskutiert. Aussagekräftige Daten aus klinischen Studien hierzu liegen bis dato nicht vor. Eine Übersicht über den Diskussionsstand und über die in Deutschland verfügbaren Arzneimittel mit Methadon und ihre zugelassenen Indikationen ist unter www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/AVP/Artikel/201704/191h/index.php verfügbar. Zusammenfassend wird der Einsatz von Methadon zur Tumortherapie wegen unzureichender Datenbasis derzeit von den relevanten medizinischen Fachgesellschaften abgelehnt (2).

Wie wahrscheinlich ist, dass Methadon in den beschriebenen Fällen ursächlich für die Stürze und Folgeerscheinungen war?

Eine dänische Fall-Kontroll-Studie zeigte ein erhöhtes Fraktur-Risiko unter der analgetischen Behandlung mit Opioiden einschließlich Methadon (adjustierte Odds Ratio 1,39; 95 % CI (1,05–1,83). Ein Anstieg des Frakturrisikos war bereits bei kumulativer Einnahme von weniger als zehn definierten Tagesdosen (DDD) zu beobachten. Daher ist anzunehmen, dass der Anstieg eher durch Stürze als durch eine Schwächung der Knochenstruktur verursacht wurde, da die Einnahmedauer zu kurz war, um größere Veränderungen der Knochenstruktur zu ermöglichen (4). Als Ursachen für eine Opioid-induzierte Schwächung der Knochenstruktur werden direkte Effekte auf die Osteoblasten sowie ein Opioid-induzierter Hypogonadismus diskutiert (5–7).

In den beiden dargestellten Fällen können alternative Ursachen für die Stürze nicht komplett ausgeschlossen werden. Beide Patienten erhielten parallel Dexamethason und als Antiepileptikum Levetiracetam. Unter Levetiracetam gehören Somnolenz, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schwindel zu den häufigsten Nebenwirkungen und gelegentlich können auch Koordinationsstörungen sowie Ataxie auftreten (6). Zudem können Glioblastome selbst Koordinationsstörungen sowie eine Stand- und Gangunsicherheit hervorrufen. Selbst wenn diese Faktoren eine Rolle gespielt haben, könnte das Sturzrisiko durch eine den Ärzten unbekannte Methadoneinnahme verstärkt worden sein, sodass in beiden Fällen die Methadoneinnahme zu einem Schaden für den Patienten beigetragen hat. Im Fall 1 wurde die Diagnose der Fraktur um mehrere Wochen verzögert, weil eine eindeutige Schmerzangabe fehlte. Im Fall 2 wurden ebenfalls zunächst differenzialdiagnostisch andere Ursachen für die Symptomatik in den Vordergrund gestellt. Wäre den Ärzten die Methadoneinnahme bekannt gewesen, so wären bei den beobachteten Symptomen mit hoher Wahrscheinlichkeit die richtigen Maßnahmen zur Reduktion des Sturzrisikos eingeleitet worden. Zusammenfassend ist aus Sicht der AkdÄ aber wahrscheinlich, dass Methadon die Verwirrtheit, Gangunsicherheit und letztendlich den Sturz in beiden beschriebenen Fällen ausgelöst oder zumindest begünstigt hat.

Daten aus dem Spontanmeldesystem

Die europäische Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Nebenwirkungen (EudraVigilance) listet zum 26.02.2019 über 9400 Fälle mit insgesamt über 21.000 einzelnen Reaktionen zu Methadon auf, von denen 98 % als schwerwiegend eingestuft wurden. Darunter sind 59 Stürze und zahlreiche Frakturen u. a. der Hüfte und der Extremitäten (Zugang über: www.adrreports.eu/de/).

Nebenwirkungen bei Off-Label-Use unbedingt melden

Nebenwirkungen von Arzneimitteln, die im Rahmen von Off-Label-Use auftreten, sind nicht durch Studien abgebildet und sollten im Rahmen des Spontanmeldesystems daher unbedingt berichtet werden (7). Diese Berichte können wichtige Sicherheitssignale zu Arzneimitteln aufzeigen. Nebenwirkungen im Zusammenhang mit dem Off-Label-Use von Methadon sollten gemeldet werden, um die Arzneimittelsicherheit im Rahmen der Verordnung für nicht zugelassene Indikationen zu prüfen und zu überwachen.

Fazit

Zwei Fallberichte an die AkdÄ zeigen, dass die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht belegte Tumorbehandlung mit Methadon zu schwerwiegenden Folgen für die Patienten führen kann. Patienten sind sturzgefährdet und Frakturen können durch die starke analgetische Wirkung verschleiert werden. Diese Risiken sollten bei der Off-Label-Anwendung von Methadon in der Tumortherapie mit in Betracht gezogen werden.

Literatur

  1. Starke Opioide. In: Rémi C, Bausewein C, Twycross R, Wilcock A, Howard P (Hrsg.). Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin. 2. Aufl.; München: Urban & Fischer, 2015; 492–592.
  2. Dicheva S, Stammschulte T, Radbruch L: Fraglicher antiproliferativer Effekt von Methadon in der Tumortherapie. Arzneiverordnung in der Praxis 2017; 4: 191–196.
  3. Hexal AG: Fachinformation „Methaddict®“. Stand: Januar 2019.
  4. Vestergaard P, Rejnmark L, Mosekilde L: Fracture risk associated with the use of morphine and opiates. J Intern Med 2006; 260 (1): 76–87.
  5. Teng Z, Zhu Y, Wu F, Zhu Y, Zhang X, Zhang C, Wang S, Zhang L. Opioids contribute to fracture risk: a meta-analysis of 8 cohort studies. PLoS One 2015; 10(6): e0128232.
  6. Coluzzi F, Pergolizzi J, Raffa RB, Mattia C. The unsolved case of „bone-impairing analgesics“: the endocrine effects of opioids on bone metabolism. Ther Clin Risk Manag. 2015; 11: 515–23.
  7. Fountas A, Chai ST, Kourkouti C, Karavitaki N. Mechanisms of endocrinology: Endocrinology of opioids. Eur J Endocrinol 2018; 179(4): R183-R196.
  8. AbZ-Pharma GmbH: Fachinformation „Levetiracetam AbZ 500 mg / 1000 mg Filmtabletten“. Stand: Februar 2017.
  9. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Leitfaden „Meldung von Nebenwirkungen“: www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/LF/UAW/index.html (letzter Zugriff: 25. März 2019). März 2019.