Revolte auf Luna – Transparency and Independence, NOW
Editorial
Editorial
Die Sagrada Família in Barcelona gehört zu den ewigen Baustellen. Baubeginn war 1882, seitdem sind mehrere Termine zur Fertigstellung verstrichen. Im Jahr 2026, zum 100. Todestag des ursprünglichen Architekten Antoni Gaudí, sollte sie spätestens und endlich vollendet sein.
Der Umgang mit Interessenkonflikten in der Medizin ist ebenfalls eine permanente und allgegenwärtige Baustelle (1). Immerhin hat sich schon einiges Erfreuliches getan. Begonnen hatten die Arbeiten um die Jahrtausendwende als Grassroots-Bewegung „No Free Lunch“ in den USA (2-4). Der Satz There Ain't No Such Thing As A Free Lunch („TANSTAAFL“) wurde zum ersten Mal in dem Science-Fiction-Roman The Moon Is a Harsh Mistress („Revolte auf Luna“) des US-Autors Robert A. Heinlein verwandt. In Deutschland entstand im Jahr 2007 die Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte, mit dem Akronym MEZIS (Mein Essen zahl‘ ich selbst) (5).
Tatsächlich stand zunächst die Ablehnung von durch pharmazeutische Unternehmer bzw. Hersteller von Medizinprodukten finanzierten Fortbildungsveranstaltungen im Vordergrund. Nach wie vor werden mehr als zwei Drittel der ärztlichen Fortbildungen von pharmazeutischen Unternehmern bzw. der Medizinprodukte-Industrie (mit)finanziert (6).
Von der Industrie bezahltes Catering bei ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Arzneimittelmuster und Schreibwaren waren die häufigsten Zuwendungen in Arztpraxen (7). Immer mehr Kolleginnen und Kollegen kommen zu der Erkenntnis, dass eine gut organisierte Arztpraxis sich Schreibwaren durchaus auch selbst aussuchen und bezahlen kann (Meinen Kuli — usw. — zahl‘ ich selbst). Sponsoring von Praxisverwaltungssystemen durch direkte Werbung im System ist ebenfalls noch weit verbreitet.
Ärzte werden bereits im Medizinstudium geprägt und erfahren dort frühe Kontakte mit der Pharmaindustrie (8). In den USA entstand daraus die „AMSA Pharmfree Scorecard“, die anzeigt, wie die einzelnen Medizinischen Fakultäten in diesem Ranking stehen (9). In Deutschland sieht die Lage noch schlechter aus: Bei einer Befragung von Lieb und Koch 2014 zeigte sich, dass nur 2 von 30 medizinischen Fakultäten Richtlinien bezüglich Einflüssen durch die pharmazeutische Industrie implementiert hatten und es nur an 8 von 30 Fakultäten Lehrveranstaltungen zu dem Thema gab. Erschreckend war auch, dass die Mehrzahl der teilnehmenden Fakultäten kein Interesse daran hatte, dies zu ändern (10).
Sophie Gepp und Zoe Friedmann haben für die AG Interessenkonflikte der Bundesvertretung der Medizinstudierenden einen sehr wichtigen Artikel über die Lage in Deutschland zu diesem Thema in AVP 1–2/2020 (11) geschrieben.
Kostenloses Essen und Schreibutensilien werden für die Teilnehmer bzw. Abnehmer von der Mehrzahl der Beschenkten nicht als Beeinflussung wahrgenommen. „Ein Kugelschreiber beeinflusst doch nicht meine Präparateauswahl auf dem Rezept." Weitgehend unbemerkt wurde bislang die Vergütung der Referenten bei Fortbildungsveranstaltungen („Meinungsbildner“) geregelt.
Mögliche Wege zur Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen in der Medizin wurden sowohl für Deutschland (12) als auch international immer wieder beschrieben (13). Nur für unabhängige, nicht pharmagesponserte Fortbildungen sollten Fortbildungspunkte vergeben werden können. Tatsächlich wurde in Deutschland auch schon viel erreicht. Immer mehr Kollegen entscheiden sich dafür, keine Pharmareferenten mehr zu empfangen. Als vorbildliche Initiativen gelten Neurology First, Leitlinien-Watch, das Aktionsbündnis Fortbildung 2020 für unabhängige ärztliche Fortbildung (14) und MEZIS CME-Watch (15).
Es tut sich also (zögernd) etwas. Wir alle sind aufgerufen, uns aktiv gegen gesellschaftsschädliches Verhalten im Gesundheitswesen einzusetzen. Es geht dabei um Selbstkontrolle der Ärzteschaft. Wir sollten uns nicht bieten lassen, dass die pharmazeutische Industrie unsere Fortbildungen merklich oder auch unmerkbar beeinflusst.
Positive Beispiele für unabhängige Fortbildung sind die Tage der Allgemeinmedizin der DEGAM (16) sowie die Fortbildungsveranstaltungen der AkdÄ. Neben der Mitgliedschaft in Fachgesellschaften sollte auch in unabhängige Zeitschriften investiert werden, z. B. arznei-telegramm, Arzneimittelbrief, BUKO Pharma-Kampagne und AVP.
In dieser AVP-Ausgabe widmen sich drei Artikel von Schott et al. der „Baustelle“ Interessenkonflikte. Im ersten Artikel geht es um Manipulation bei medizinischen Apps/medizinischer Software (17). Im zweiten Artikel stellen die Autoren die Hauptaufgaben der AkdÄ sowie des im Jahr 2014 auf Beschluss der Bundesärztekammer eingerichteten Fachausschusses für Transparenz und Unabhängigkeit vor, um Wege zur Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen in der Medizin aufzuzeigen (18). Dass der Erkenntnisgewinn von Anwendungsbeobachtungen gering ist, sie aber das Verschreibungsverhalten beeinflussen und deswegen die AkdÄ davon abrät, können Sie im Nachdruck aus dem Deutschen Ärzteblatt nachlesen (19).
Marshall et al. berichten in einer aktuellen Studie in JAMA von den Ergebnissen des Open-Payments-Transparenzprogramms in den USA und verdeutlichen, dass die „Baustelle“ Interessenkonflikte keinesfalls aus den Augen gelassen werden darf. Tatsächlich werden immer noch vergleichbare Summen investiert (9,3 Milliarden im Zeitraum 2013–2018) und diese nur fokussierter verteilt, vor allem an sogenannte Meinungsbildner (key opinion leaders) (20).
The time for small ideas is over. We need big, structural change (Elizabeth Warren, USA).
Wir sind auf dem richtigen Weg und sollten ihn weitergehen. Wäre die strengere Berücksichtigung von Interessenkonflikten ein Klimaziel, würden Physicians for Future freitäglich fordern: We want Action! Transparency and Independence, Now!
Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.