Lipidtherapie: „Je niedriger desto besser“ – und was nützt das den Patienten?
Editorial
Editorial
2019 wurden neue Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) zur Lipidsenkung veröffentlicht (1). Diese wollen zum einen die Indikationen zur medikamentösen Therapie ausweiten und zum anderen die angestrebten LDL-Zielwerte deutlich verschärfen.
So soll allein der Nachweis einer Plaque in der Carotis eine Sekundärprävention definieren. Ein 55-jähriger, leicht übergewichtiger Mann mit geringem Bluthochdruck soll ein vollständiges Screening seiner Lipide, einen Gefäßultraschall und ein Kalzium-Scoring erhalten. Die dadurch entstehenden Risiken und Kosten stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zum erwarteten Nutzen. In einem Artikel im Arzneimittelbrief wurde auf den hohen Anteil interessenkonfliktbelasteter Autoren und die fehlende systematische Aufarbeitung der Literatur dieser Leitlinie hingewiesen (2).
Eine Hochdosistherapie mit Statinen und eine Intensivierung mit zusätzlichen Medikamenten (Bempedoinsäure, PCSK9-Inhibitoren) wird nach dieser neuen Leitlinie sehr vielen Patienten nach koronaren Ereignissen empfohlen, um LDL-Zielwerte < 50 mg/dl anzustreben, die ohnehin nur wenige erreichen können. Aber müssen sie das denn überhaupt?
Natascha Einhart und Hans Wille geben in dieser Ausgabe von AVP einen kurzen und prägnanten Einblick in den neuen umfassenden Leitfaden der AkdÄ „Medikamentöse Cholesterinsenkung zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse“, der gerade erschienen ist (3). Fokussiert man auf Empfehlungen, für die belastbare Ergebnisse aus prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studien mit harten Endpunkten vorliegen, und differenziert man zwischen relativer und absoluter Risikoreduktion, um letztlich anhand der Number needed to treat (NNT) den Patienten einen Rat geben zu können, der ihnen auch wirklich nützt, kommt man zu gänzlich anderen Entscheidungen. Unter Sekundärprävention fallen in diesem Leitfaden nur Patienten:
Damit trifft für einen Großteil der Patienten lediglich die Zuordnung zur Primärprävention zu. Außerdem wird klargestellt, dass eine Hochdosistherapie mit Statinen oder gar eine Dosistitration nach Zielwerten in der Primärprävention keinen nachgewiesenen klinisch relevanten Nutzen hat. Für die Sekundärprävention wird berechnet, dass 100 Patienten über fünf Jahre behandelt werden müssen, um durch eine Hochdosis-Statinbehandlung gegenüber Standarddosierung einen Myokardinfarkt zu verhindern.
In einem weiteren Beitrag stellt Michael Freitag die Empfehlungen zum Einsatz der Statine in der Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen vor, die von der US Preventive Services Task Force 2022 aktualisiert wurden (4) und eine kontroverse Diskussion ausgelöst haben (5-7).
Das Beispiel der Lipidtherapie macht einmal mehr klar, wie wichtig es ist, der Werbung der pharmazeutischen Industrie und den Aussagen von Meinungsbildnern mit Interessenskonflikten neutrale, evidenzbasierte Informationen über Arzneimittel entgegenzusetzen. Dazu dienen pharmaunabhängige Zeitschriften (AVP, Der Arzneimittelbrief, arzneitelegramm, Pharma-Brief der BUKO Pharma-Kampagne) sowie unabhängig veranstaltete Kongresse und Fortbildungen, nicht zuletzt die Nutzenbewertung durch den G-BA.
Allerdings hilft auch noch so gute evidenzbasierte Information nicht, wenn viele Arzneimittel in Deutschland zunehmend nicht verfügbar sind. Sehr traurig ist daher zu sehen, dass sehr teure Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen im Vergleich zur Standardtherapie offensichtlich jederzeit gut erhältlich sind, während gleichzeitig preiswerte und für die tägliche ärztliche Praxis notwendige Basismedikamente wie Penicillin V, Amoxicillin oder auch Ibuprofen regelmäßig längerfristigen Lieferengpässen unterliegen oder zeitweise gar nicht verfügbar sind. Hier wirken ganz eindeutig Marktmechanismen zum Nachteil der Patienten. Der Gesetzgeber ist in der Pflicht, schnell wirksame Maßnahmen zu implementieren, damit dieser Entwicklung Einhalt geboten wird. Nur dann können wir Ärzte evidenzbasiert, rational und sicher unsere Patienten medikamentös behandeln!
Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.