Intrakranielle Blutungen unter Antidepressiva: Erkenntnisse aus neuen systematischen Übersichtsarbeiten und Fall-Kontroll-Studien
Therapie aktuell
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Antidepressiva (AD) gehören zu den Medikamentenklassen, die in Industrieländern am meisten verschrieben werden. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) werden aufgrund der Selektivität vor allem bei älteren Patienten häufig eingesetzt. Allerdings ist die Einnahme von SSRI mit einem erhöhten Blutungsrisiko verbunden. Seit Längerem gilt als bewiesen, dass SSRI die gastrointestinale Blutungswahrscheinlichkeit erhöhen. Ein erhöhtes Hirnblutungsrisiko unter SSRI konnte bisher nicht sicher nachgewiesen werden.
Für diesen Artikel wurden zwei neue systematische Übersichtsarbeiten und zwei neue Fall-Kontroll-Studien mit insgesamt über 2,1 Mio. Patienten mit Neuverschreibung eines AD evaluiert. Die Ergebnisse zeigten eine stärkere Neigung zu intrakraniellen Blutungen unter SSRI als ohne SSRI. Verglichen mit trizyklischen Antidepressiva (TZA) waren SSRI, aber auch selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) und Mirtazapin, mit einer erhöhten intrakraniellen Blutungsneigung assoziiert. Die Einnahme von Monoaminooxidase(MAO)-Hemmern hingegen war verglichen mit der Einnahme von TZA mit einem geringeren Blutungsrisiko verbunden.
Die Unterschiede sind zwar statistisch signifikant, die Effektgröße ist jedoch klein. Hirnblutungen sind eine sehr seltene Nebenwirkung dieser AD, haben jedoch für den Betroffenen oft schwerwiegende Folgen. Patienten mit einem erhöhten Blutungsrisiko (z. B. mit hämorrhagischer Diathese, einer Hirnblutung in der Vorgeschichte oder unter oraler Antikoagulation) sollten daher besonders intensiv über die erhöhte Blutungsneigung aufgeklärt werden und die Indikation für eine Medikation mit SSRI oder SNRI sollte besonders kritisch geprüft werden.
Antidepressiva (AD) gehören zu den am meisten verschriebenen Medikamenten in Industrieländern (1;2). Allein in Deutschland wurden im vergangenen Jahr über 1,5 Mrd. standardisierte Tagesdosen im ambulanten kassenärztlichen Bereich verordnet. Von diesen waren knapp die Hälfte (etwa 0,69 Mrd.) SSRI (3). AD haben ein breites Wirkspektrum und werden neben der Behandlung von Depressionen u. a. für die Therapie von Angst- und Zwangserkrankungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Essstörungen, chronischen Schmerzsyndromen und Schlafstörungen eingesetzt (4).
Seit über einer Dekade ist bekannt, dass die Einnahme von AD und hier insbesondere von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) das Blutungsrisiko erhöhen kann (5-7). Verschiedene pharmakologische Mechanismen sind für das erhöhte Blutungsrisiko unter SSRI verantwortlich: Serotonin-Transporter finden sich nicht nur im Gehirn, sondern auch an den Thrombozyten. 99 % des im Körper vorhandenen Serotonins werden in Thrombozyten gespeichert (8). SSRI inhibieren das Serotonin-(5HT-)Transporterprotein, welches 5HT aus dem synaptischen Spalt wieder in das präsynaptische Neuron aufnimmt. Sie hemmen auf vergleichbare Weise die 5HT-Transporter an den Thrombozyten, was die Aufnahme von 5HT in die Blutplättchen verhindert. SSRI hemmen hierdurch die Thrombozytenaggregation, indem sie die Koagulationskaskade, die Sekretion von Plättchenfaktoren und damit die Blutplättchenaktivierung beeinträchtigen (9-14). Das Blutungsrisiko steigt mit der Affinität, mit der die AD an die Serotonin-Transporter binden beziehungsweise mit der Stärke der Inhibition der Serotonin-Wiederaufnahme (8;9).
Während bisherige Studien vor allem ein erhöhtes gastrointestinales Blutungsrisiko unter SSRI nachweisen konnten (5-7), analysieren nun zwei neue systematische Übersichtsarbeiten das Hirnblutungsrisiko unter Medikamenten, die die Serotonin- und/oder Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmen (15;16).
Douros et al. untersuchten hierfür in ihrem systematischen Review zwölf Beobachtungsstudien, in denen die Hirnblutungsrate unter SSRI entweder der Hirnblutungsrate ohne AD oder unter TZA- bzw. SNRI-Einnahme gegenübergestellt wurde (15). Die Studien waren bezüglich Patientenpopulation, Methodik, Ergebnissen und Studienqualität sehr heterogen, weshalb sie deskriptiv, aber nicht metaanalytisch ausgewertet wurden. Es zeigte sich Evidenz für ein leicht erhöhtes Hirnblutungsrisiko unter SSRI verglichen sowohl mit dem Risiko ohne AD-Therapie als auch mit dem Risiko unter der Einnahme von TZA.
Auch Jensen et al. bestätigten in ihrer Metaanalyse einen signifikanten Anstieg des Hirnblutungsrisikos unter SSRI-Therapie verglichen mit dem von nicht mit AD behandelten Individuen (RR 1,26; 95 % Konfidenzintervall [CI] 1,11–1,42; p < 0,001), wobei die Studien, die den höchsten Zusammenhang zwischen Hirnblutung und SSRI-Einnahme fanden, gleichzeitig jene waren, die von Jensen et al. als stärker verzerrt kritisiert wurden (16).
Renoux et al. zeigten in ihrer aktuellen Fall-Kontroll-Studie, dass das Risiko einer Hirnblutung bei Einnahme eines SSRI höher ist als bei Einnahme eines TZA (8). Hierfür wurden Daten der United Kingdom’s Clinical Practice Research Datalink (CPRD) verwendet. In die Kohorte wurden 1.363.990 Patienten mit Neuverschreibung eines AD integriert. Von diesen erhielten 56,7 % SSRI, 39,2 % TZA und 4,1 % andere AD. Patienten mit einer Hirnblutung in der Anamnese wurden nicht in die Kohorte aufgenommen. Innerhalb der Kohorte wurden sämtliche Patienten mit Diagnose einer Hirnblutung erfasst. Jedem dieser Fälle wurden, entsprechend dem durch den Fall definierten Risikoprofil für Geschlecht, Alter, Kalenderjahr des Kohorteneintritts und Dauer des Follow-ups, 30 Kontrollindividuen aus der Kohorte, die keine Hirnblutung hatten, zugeordnet.
Von den Patienten, die eine Hirnblutung erlitten (0,2 % der Kohorte), nahmen zum Indexzeitpunkt 19,4 % ein SSRI. In der Kontrollgruppe waren es 16 %. Weitere 12 % der Patienten mit Hirnblutung nahmen zum Indexzeitpunkt ein TZA, in der dazugehörigen Kontrollgruppe waren es 11,6 %. Verglichen mit TZA zeigte sich also unter SSRI-Medikation ein erhöhtes Hirnblutungsrisiko mit einer absoluten adjustierten Differenz von 6,7 pro 100.000 Personen pro Jahr beziehungsweise einer adjustierten Rate-Ratio von 1,17 (95 % CI 1,02–1,35). Das Hirnblutungsrisiko war am höchsten innerhalb der ersten 30 Einnahmetage. Mit steigender 5HT-Transporterinhibition zeigte sich ein stärkeres Blutungsrisiko. Auch die gleichzeitige Einnahme von oralen Gerinnungshemmern war erwartungsgemäß mit einer höheren Hirnblutungsrate verbunden (verdreifacht), welche jedoch keine statistische Signifikanz erreichte. Das Risiko einer Hirnblutung unter SSRI verglichen mit dem Hirnblutungsrisiko ohne AD zeigte sich ebenfalls erhöht (RR 1,35; 95 % CI 1,22–1,50) (8).
Schäfer et al. verglichen in ihrer kürzlich publizierten Fall-Kontroll-Studie das intrakranielle Blutungsrisiko unter der Medikation mit verschiedenen AD (aber nicht mit keiner AD-Einnahme) (17). Im Gegensatz zur Studie von Renoux et al. lag das Einschlussalter bei über 65 Jahren. Die Studie basiert auf Daten der German Pharmacoepidemiological Research Database (GePaRD). Aus einer Kohorte von 714.444 Patienten mit Verschreibung von mindestens einem AD wurden Patienten mit Hirnblutung identifiziert und entsprechenden Kontrollindividuen ohne Hirnblutung zugeordnet. Im Folgenden wurde die Hirnblutungsrate unter dem TZA Amitriptylin mit der unter SSRI (adjustierte Odds Ratio (OR) 1,39; 95 % CI 1,22–1,58), SNRI (OR 1,69; 95 % CI 1,35–2,11), Mirtazapin (OR 1,44; 95 % CI 1,22–1,69) und MAO-Hemmern (OR 0,55; 95 % CI 0,28–1,05) verglichen. Es zeigte sich somit unter SSRI, SNRI und Mirtazapin eine erhöhte Blutungsneigung im Vergleich zu Amitriptylin, unter MAO-Hemmern (und auch Trimipramin) eine geringere.
Mit den beiden neuen systematischen Übersichtsarbeiten scheint erstmals wissenschaftlich gesichert, dass AD nicht nur zu einer Erhöhung des Risikos für gastrointestinale, sondern auch für intrakranielle Blutungen führen. Zugleich ist zu beachten, dass sowohl absolutes Risiko als auch relative Risikoerhöhung gering, die Datenlage heterogen und die Datenqualität unbefriedigend sind.
Beide Fall-Kontroll-Studien weisen ein signifikant erhöhtes Blutungsrisiko unter SSRI verglichen mit TZA nach. Trotz eingeschränkter statistischer Aussagekraft durch vergleichsweise geringe Verordnungszahlen einiger Medikamente ist zu erkennen, dass das Blutungsrisiko innerhalb der Substanzgruppen unterschiedlich ist. Das geringere Blutungsrisiko unter TZA ist möglicherweise durch zahlenmäßig überwiegende Verordnung von Amitriptylin, der negative Effekt der SSRI eventuell durch Überwiegen der Verordnung von Citalopram und Escitalopram bedingt. Nur für diese beiden SSRI fand sich bei Analyse auf Wirkstoffebene eine im Vergleich zu Amitriptylin erhöhte Blutungsneigung (17). Ob Amitriptylin tatsächlich, wie durch Schäfer et. al. angeführt, keinen Einfluss auf die Blutungsneigung hat, ist kritisch zu hinterfragen. Möglicherweise ist das Blutungsrisiko lediglich relativ niedriger als unter anderen AD.
Noch aussagekräftiger als die Fall-Kontroll-Studien wäre eine randomisierte, kontrollierte Studie. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Hirnblutungen um eine extrem seltene Nebenwirkung handelt, wäre jedoch eine sehr große Stichprobe und eine lange Beobachtungszeit vonnöten, was aus finanziellen, organisatorischen und ethischen Gründen schwer durchführbar scheint.
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.
Dieser Artikel wurde am 6 Juli 2020 vorab online veröffentlicht.