Anwendungsbeobachtungen: Erkenntnisgewinn ist gering
Transparenz und Unabhängigkeit
Transparenz und Unabhängigkeit
Obwohl sie die relevanten Fragen nicht beantworten, die nach der Zulassung eines Arzneimittels offenbleiben, sind Anwendungsbeobachtungen weit verbreitet. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft rät Ärzten deshalb, an keinen Anwendungsbeobachtungen teilzunehmen.
Pharmazeutische Unternehmer beschreiben Anwendungsbeobachtungen (AWB) als „unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung“, in denen unter Alltagsbedingungen wichtige Informationen zu einem Arzneimittel gewonnen werden, zum Beispiel zur Langzeitwirksamkeit und zu noch nicht bekannten Nebenwirkungen (1). Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich hinter AWB oftmals Marketingmaßnahmen mit geringem wissenschaftlichen Anspruch verbergen (2;3).
AWB sind eine Untergruppe der nichtinterventionellen Studien im Sinne von § 4 Abs. 23 Satz 3 Arzneimittelgesetz (AMG) (4). Im Unterschied zu interventionellen Studien folgen Diagnose, Behandlung und Überwachung nicht einem vorab festgelegten Prüfplan, sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis. Die Arzneimittel werden in den AWB wie in der Fach- oder Gebrauchsinformation beschrieben angewendet. Es dürfen keine über die Standardtherapie hinausgehenden zusätzlichen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen an den teilnehmenden Patientinnen und Patienten vorgenommen werden, sonst handelt es sich um eine genehmigungspflichtige klinische Prüfung. AWB sind hingegen nicht genehmigungspflichtig.
Wenn ein pharmazeutischer Unternehmer eine AWB durchführt, muss er sie jedoch nach § 67 Abs. 6 AMG unverzüglich der zuständigen Bundesoberbehörde, also dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), oder dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Verband der privaten Krankenversicherung anzeigen. Nach den Empfehlungen des BfArM und des PEI sollten Patienten über die Teilnahme an einer AWB aufgeklärt werden (5). Die Teilnahme sollte nur freiwillig und nach Einverständnis der Patienten möglich sein. Vor der Durchführung einer AWB wird eine Beratung durch eine Ethikkommission empfohlen. AWB sind abzugrenzen von Post-Authorisation Safety Studies (PASS) oder Post-Authorisation Efficacy Studies (PAES), die von den regulatorischen Behörden, vor allem der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), meist im Zusammenhang mit der Neuzulassung einer Substanz als nichtinterventionelle oder interventionelle Studien angeordnet oder freiwillig von pharmazeutischen Unternehmen durchgeführt werden (6).
Eine Post-Authorisation Safety Study (PASS) wird nach der Zulassung eines Arzneimittel, durchgeführt, um weitere Informationen zur Sicherheit dieses Arzneimittels zu erhalten oder um die Wirksamkeit von Risikomanagementmaßnahmen zu messen. Auf diese Weise sollen Sicherheitsrisiken identifiziert, charakterisiert oder quantifiziert und das Sicherheitsprofil eines Arzneimittels bestätigt werden.
Eine Post-Authorisation Efficacy Study (PAES) kann freiwillig durchgeführt werden oder von den Zulassungsbehörden auferlegt worden sein. Es handelt sich um Studien der Phase IV zur Ergänzung der Wirksamkeitsdaten, die zum Zeitpunkt der ersten Zulassung verfügbar sind, und zur Erhebung von Langzeitdaten dazu, wie gut das Arzneimittel wirkt, während es bereits weitläufig angewendet wird.
Die vorhandenen Daten weisen darauf hin, dass eine erhebliche Anzahl von AWB in Deutschland durchgeführt wird (7). Angaben der KBV zufolge wurden 2016 insgesamt 98 AWB als abgeschlossen gemeldet, an denen 5231 Ärztinnen und Ärzte und circa 30742 Patientinnen und Patienten teilnahmen. Bei Befragungen von niedergelassenen Ärzten in Deutschland aus dem Jahr 2008 erklärte beinahe die Hälfte der 208 Teilnehmer, jährlich in mindestens eine AWB involviert gewesen zu sein (8).
Untersuchungen zeigen, dass AWB vor allem zu teuren Arzneimitteln durchgeführt werden, darunter antineoplastische und immunmodulatorische Arzneimittel, aber auch Röntgenkontrastmittel (2;9;10). Einige dieser Arzneimittel sind bereits viele Jahre auf dem Markt (11). Die wissenschaftliche Qualität der meisten AWB ist schlecht, zum Beispiel weil sie Fragestellungen untersuchen, die nicht mit dem Design einer AWB zu beantworten sind. Außerdem werden nur von wenigen AWB die Ergebnisse publiziert. Die Stichprobengröße in AWB ist häufig zu klein, um seltene Nebenwirkungen zu entdecken (12). Teilnehmende Ärzte müssen dem pharmazeutischen Unternehmer häufig Vertraulichkeit über alle Daten zusichern. Dadurch entsteht die Gefahr, dass für den pharmazeutischen Unternehmer ungünstige Ergebnisse verheimlicht werden. Darüber hinaus sind die Vergütungen für AWB oft unangemessen hoch oder werden nicht ausreichend begründet – obwohl dies eindeutig rechtlich gefordert wird. Diese Befunde sprechen dafür, dass AWB von pharmazeutischen Unternehmern meist initiiert werden, um die Verkaufszahlen des „untersuchten“ Arzneimittels zu steigern und den teilnehmenden Ärzten Geld zukommen zu lassen.
Analysen belegen, dass AWB das Verordnungsverhalten von Ärzten verändern können (3). So zeigte eine aktuelle Untersuchung, dass Ärzte, die an einer AWB teilnehmen, das entsprechende Arzneimittel während der Studie und im Jahr danach signifikant häufiger verschreiben (13). Dieses Ergebnis wirft Fragen auf hinsichtlich des rein beobachtenden Charakters von AWB. Auch die Vorgänge um Daclizumab (Zinbryta®, Biogen), das im Jahr 2016 zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Form der Multiplen Sklerose (MS) zugelassen wurde, weisen auf eine Veränderung des Verordnungsverhaltens durch AWB hin. Nur eineinhalb Jahre später wurde das Arzneimittel wegen schwerer und teils tödlich verlaufender Nebenwirkungen vom Markt genommen. Zur Einführung von Daclizumab zur Behandlung der MS versuchte der pharmazeutische Unternehmer trotz eines laufenden Risikobewertungsverfahrens mithilfe einer AWB rasch einen größeren Marktanteil zu erlangen. Die AWB wurde nur in Deutschland durchgeführt, sodass die weit überwiegende Zahl der Patienten, die in Europa Daclizumab erhielten, aus Deutschland kam: 2890 Patienten im Vergleich zu 400 Patienten, die aus dem restlichen Europa stammten. Mindestens sieben Todesfälle wurden mit der Anwendung von Daclizumab in Zusammenhang gebracht, die meisten davon in Deutschland (14).
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) empfiehlt Kolleginnen und Kollegen, bei Studien nach der Zulassung oder Registrierung eines Arzneimittels nur an PASS oder PAES teilzunehmen. Sie rät von der Teilnahme an AWB ab. Gegen die Teilnahme an einer AWB sprechen laut KBV insbesondere folgende Aspekte (15):
AWB können die relevanten Fragen nicht beantworten, die nach der Zulassung eines Arzneimittels offenbleiben, beispielsweise zum Nutzen und Schaden im Vergleich mit verschiedenen anderen Arzneimitteln in sogenannten Head-to-Head-Studien oder zur Arzneimittelsicherheit (16;17). In der Regel beantworten aber AWB auch nicht die Fragen, die sie beantworten könnten, zum Beispiel zur Adhärenz der Patienten, zur Durchführung notwendiger Kontrolluntersuchungen oder zur Anwendung des Arzneimittels außerhalb der Zulassung. Deswegen rät die AkdÄ Kolleginnen und Kollegen von der Teilnahme an AWB ab.
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.
Dieser Artikel wurde am 20. Juli 2020 vorab online veröffentlicht.