Angemessenheit von Antibiotikaverordnungen in der Primärversorgung am Beispiel akuter Atemwegsinfekte
Therapie aktuell
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Der zu häufige Einsatz von Antibiotika in der Primärmedizin weltweit ist einer mehrerer Gründe für global zunehmende Antibiotikaresistenzen. Die Möglichkeiten Antibiotikaverordnungen zu optimieren wurden wissenschaftlich am besten in Bezug auf akute Atemwegsinfekte (AWI) untersucht. AWI werden überwiegend von Viren verursacht und sind in der Regel selbstlimitierend. Dennoch sind Antibiotikaverordnungen für diesen Behandlungsanlass sogar in Niedrigverordnerländern wie etwa den Niederlanden oder skandinavischen Ländern verhältnismäßig häufig. Eine Erklärung für Verordnungen, die sich einer rationalen Verordnungspraxis entziehen, kann auf Ebene der Arzt-Patienten-Kommunikation gefunden werden. Bemühungen zur Förderung einer rationalen Verordnungspraxis zielen daher auf eine Veränderung ärztlichen Verordnungsverhaltens ab. Zum jetzigen Zeitpunkt existieren vor allem drei Ansatzpunkte für edukative Interventionen: Kommunikationstrainings mit dem Ziel der partizipativen Entscheidungsfindung, also den Einbezug des Patienten in die Therapieentscheidung, und zu einem gewissen Grad auch Labortests (für den Ausschluss eines gefährlichen Verlaufs) können die Anzahl an Antibiotikaverordnungen verringern. Außerdem zeigt sich zeitnahes systematisches Verordnungsfeedback besonders bei hochverordnenden Ärzten als wirksam. Als große Herausforderung bleibt der Transfer dieser erfolgreichen Studienansätze in nachhaltige Initiativen zur Unterstützung einer rationalen Antibiotikaverordnungsstrategie in der realen Praxis.
The worldwide overuse of antibiotics in primary care is one of several major causes for rising global antibiotic resistance. Most research on antibiotic stewardship in primary care has been done in regard to acute respiratory tract infections (ARTI). ARTIs are mostly caused by viral pathogens and are usually self-limiting. However, even in low prescribing countries, antibiotic prescriptions for ARTIs are common. Explanations for antibiotic prescribing despite better knowledge can be found at the level of doctor-patient-communication. Antimicrobial stewardship thus aims at changing prescriber behaviour. Sufficient evidence suggests that mainly three interventional concepts are effective. Communications skills training fostering shared-decision-making processes and to some extent laboratory testing (to rule out serious disease) can lower antibiotic prescription rates. Further, systematic feedback can be helpful, especially in high prescribing settings. The present-day challenge is to transfer successful approaches into sustainable antimicrobial stewardship policies in primary care.
Der zu häufige Einsatz von Antibiotika in der Primärmedizin weltweit ist einer der Hauptgründe für die global zunehmenden Antibiotikaresistenzen, was sowohl für die individuelle als auch für die populationsbezogene Ebene gezeigt werden konnte. Dass Antibiotika in vielen Ländern der Welt als Over-the-counter-Medikation gekauft werden können, verstärkt dieses Problem (1). Für die USA wurde eine Inzidenz von zwei Millionen Infektionserkrankungen pro Jahr – verursacht durch resistente Erreger – beschrieben. Allein 23.000 Todesfälle wurden in einen Zusammenhang mit multiresistenten Keimen gebracht (2).
In Deutschland wird die Gesamtmenge der verbrauchten Antibiotika in der Humanmedizin auf ca. 700–800 Tonnen pro Jahr geschätzt. Der ambulante Bereich, insbesondere sind dies Hausärzte, Kinderärzte und Zahnärzte, verordnet hiervon ca. 85 % des Gesamtvolumens und somit den bedeutendsten Anteil (3). Es wird davon ausgegangen, dass ein relevanter Anteil dieser Verordnungen vermeidbar ist.
Bis zu 50 % aller ambulanten Antibiotikaverordnungen sind vermutlich nicht indiziert. Entweder weil es keine medizinische Indikation gibt (z. B. bei Vorliegen eines viralen Infektes) oder weil sie hinsichtlich Substanzklasse, Wirkspektrum, Dosierung oder Therapiedauer inadäquat verordnet werden (4;5) Fehlerhafte Anwendungen der Antibiotika durch die Patienten verschärfen das Problem weiter (6).
Neben der Zunahme der bakteriellen Resistenzentwicklung und der Verursachung von vermeidbaren Kosten für das Gesundheitssystem stellt der (nicht indizierte) Gebrauch von Antibiotika auch ein individuelles Risiko für Patienten dar. Etwa jeder vierte Patient, der mit einem Antibiotikum behandelt wird, ist von relevanten Nebenwirkungen betroffen. Man geht weiter davon aus, dass eine von fünf relevanten medikamenteninduzierten Nebenwirkungen auf Antibiotika zurückzuführen ist (7).
Die aussagekräftigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Angemessenheit von Antibiotikaverordnungen in Bezug auf akute Atemwegsinfekte (AWI) stammen aus den westlichen Industrienationen.
AWI zählen zu den häufigsten Behandlungsanlässen in der Primärversorgung. Obwohl die meisten AWI durch Viren verursacht werden und normalerweise selbstlimitierend verlaufen (bei ansonsten gesunden Erwachsenen und Kindern), stellen sie mit Abstand den häufigsten Grund für die Verordnung eines Antibiotikums dar (8).
Erstaunlicherweise existieren für die Verordnung von Antibiotika deutliche geographische Unterschiede, die nicht allein epidemiologisch erklärt werden können. Die Spanne von Verordnungen für Patienten mit AWI liegt intraeuropäisch zwischen 30–80 % und kann am ehesten durch medizinisch-kulturelle Phänomene erklärt werden (1). Der höchste Antibiotikaverbrauch in Europa wird in den mediterranen Staaten (wie Spanien, Griechenland und Italien) beobachtet. Großbritannien und Irland liegen bezüglich ihrer Verordnungsraten in der Primärversorgung im Mittelfeld (50–60 %), allerdings werden dort sinnvollerweise eher Schmalspektrum-Antibiotika verordnet. Die Niederlande, die skandinavischen Länder sowie Deutschland zählen zu den relativen Niedrigverordnern. Gerade in Deutschland verordnen Primärärzte jedoch bevorzugt neuere Breitband-Antibiotika wie z. B. Fluorchinolone zur Behandlung von AWI (9).
Bezüglich der Qualität der Antibiotikaverordnungen in Europa wurden Qualitätsindikatoren von der ESAC-Projektgruppe (European Surveillance of Antimicrobial Consumption) erarbeitet. Anhand der Analyse dieser Indikatoren wurde beschrieben, dass die Qualität der Antibiotikaverordnungen in Europa in den letzten Jahren insgesamt sank, wenn auch in einigen wenigen Teilen Europas Verbesserungen gezeigt werden konnten. Besonders kritisch erscheint vor allem der Trend zur Verordnung besonders breit wirksamer Substanzen (10).
Die Behandlung der allermeisten Patienten mit AWI stellt in der Primärversorgung keine medizinische Herausforderung dar, diese liegt eher in einer adäquaten Symptomkontrolle. Die Indikation für die Verordnung eines Antibiotikums folgt hier idealerweise dem Prinzip des Ausschlusses eines abwendbar gefährlichen Verlaufes, d. h. bei Verdacht auf eine Pneumonie oder bei Patienten mit relevanten Komorbiditäten müssen Antibiotika verordnet werden. Konsens besteht aber darin, dass die Verordnungsraten für AWI in der Primärmedizin in einer normalen Praxispopulation 10–15 % der Fälle nicht übertreffen sollten. Trotzdem werden solche Raten nicht einmal von den am niedrigstenverordnenden Ländern erreicht.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass nahezu alle Primärmediziner sich darüber bewusst sind, dass AWI nicht regelhaft mit einem Antibiotikum behandelt werden müssen und es sich überwiegend um selbstlimitierende Erkrankungen handelt. Auch das Problem der Zunahme der bakteriellen Resistenzen durch inadäquate Verordnungen ist omnipräsent (11).
Mittlerweile konnte analysiert werden, warum „trotz besseren Wissens“ verordnet wird: Relevante Erklärungen können vor allem auf Ebene der Arzt-Patienten-Kommunikation gefunden werden. So neigen Ärzte dazu, Patientenerwartungen hinsichtlich Antibiotikaverordnungen deutlich zu überschätzen. Patientenseitig überwiegt der Wunsch nach einer plausiblen Diagnose, einer realistischen Prognose und einer Anleitung zum Symptommanagement gegenüber einem Antibiotikum in der Regel bei Weitem (12). Die Patientenzufriedenheit nimmt daher nicht ab, wenn Antibiotika nur selten eingesetzt werden (13;14). Nichtsdestotrotz sind Patienten subjektiv wegen eines AWI oft sehr besorgt und auch unter Druck (Arbeitsausfall, Versorgung von Kindern etc.) und kommunizieren dies verbal und nonverbal. Dies kann zu einer angespannten Atmosphäre während der Konsultation führen, was dann im Sinne einer nicht bewussten Konfliktvermeidungsstrategie zu einer Antibiotikaverordnung führt. Dieses Phänomen wird als Antibiotika-Verordnungsdruck bezeichnet (15;16).
Des Weiteren führt ein falsch verstandener Eindruck von höherer Patientensicherheit zu inadäquaten Verordnungen („mit Hilfe eines Antibiotikums auf der sicheren Seite stehen“). Zeitliche Erwägungen dagegen scheinen keine größere Rolle zu spielen, denn eine Relation zwischen der Konsultationslänge und der Wahrscheinlichkeit einer Antibiotikaverordnung konnte bislang nicht beobachtet werden.
Eine Regulation durch Restriktion von bestimmten Antibiotikaverordnungen z. B. im Sinne der Verordnung von Betäubungsmitteln ist zum jetzigen Zeitpunkt basierend auf den jeweiligen gesetzlichen Regelungen in den meisten europäischen Ländern schlichtweg nicht durchführbar. Daher zielen Bemühungen zur Förderung einer rationalen Verordnungspraxis (Englisch: antimicrobial stewardship) vor allem auf eine Veränderung ärztlichen Verordnungsverhaltens ab (17). Während die ersten systematisch untersuchten Interventionen der 90er Jahre noch auf Wissensvermittlung setzten, die kaum zu einer Verringerung von Antibiotikaverordnungsraten führten, zeigte sich im Rahmen von Metanalysen, dass zum jetzigen Zeitpunkt vor allem drei Ansatzpunkte für edukative Interventionen existieren, bei denen unter Studienbedingungen durch eine Veränderung in Richtung rationaler Verordnungspraxis die Verordnungsraten verringert werden können.
1. Patientenzentrierte Kommunikation und partizipative Entscheidungsfindung
Wie bereits oben dargestellt, erschweren Missverständnisse in der Arzt-Patienten-Kommunikation wie ein fälschlicherweise empfundener Verordnungsdruck eine rationale Verordnungspraxis. Interventionen zielen also auf ein besseres gegenseitiges Verständnis in der Konsultation ab. Im Sinne einer Patientenzentrierung gilt es, die Erwartungshaltung der Patienten ergebnisoffen zu explorieren, sowie dem Patienten zu ermöglichen, seine Wünsche und Perspektiven klar und frühzeitig in der Konsultation artikulieren zu können. Häufig stellt sich dann heraus, dass von Seiten der Patienten gar keine Antibiotikaverordnung erwartet wird. Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine solche partizipative Entscheidungsfindung Antibiotikaverordnungen signifikant verringern kann (18). Obwohl man sicher weiß, dass die alleinige Verbreitung von Patienteninformationen nicht effizient ist, greifen doch die meisten Interventionen auf Informationsmaterial zurück, um eine gelungene Arzt-Patienten-Kommunikation zumindest zu unterstützen. Zielgerichtete Informationen können das Krankheitsverständnis und die Therapieeinschätzung der Patienten verbessern. Sind die Patienten, gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme von Informationsmaterialien, in der Lage, positive und negative Aspekte einer Antibiotikaeinnahme bei AWI zu reflektieren, ist es idealerweise möglich, eine Übereinstimmung bezüglich der besten Therapie zwischen Patient und Arzt zu erlangen. Ein Beispiel für solche unterstützende Materialien ist beispielsweise der im Rahmen einer derzeit laufenden deutschen Studie entwickelte Infozept-Generator (RAI-Studie (19)).
Das sogenannte Delayed Prescribing, zu Deutsch also etwa die „verzögerte Verordnung“, beschreibt eine andere bzw. ergänzende Kommunikationsstrategie. Sie kann vor allem in Situationen angewendet werden, in denen kein Konsens erlangt werden kann, Patienten also z. B. auch nach Erhalt angemessener Informationen noch sehr besorgt sind und eine hohe Antibiotika-Erwartungshaltung zeigen. Dem Patienten wird kein Antibiotikum verordnet, jedoch angeboten, nach einer definierten Zeit (etwa 24–48 Stunden) ohne erneute Wartezeit ein Antibiotikarezept zu erhalten. Da die meisten AWI selbstlimitierend sind, werden viele Rezepte dann nicht abgeholt, vor allem wenn zuvor eine adäquate Symptomkontrolle erlangt werden konnte (20;21).
2. Labortests und Biomarker
In Anbetracht der relativ niedrigen Prätestwahrscheinlichkeit für bakterielle Infektionen bieten die meisten laborchemischen Untersuchungen in der Primärmedizin keine ausreichende diagnostische Sicherheit, um sicher zwischen bakteriellen und viralen AWI unterscheiden zu können. Nichtsdestotrotz können Labortests dabei helfen, abwendbar gefährliche Verläufe hinreichend unwahrscheinlich zu machen – unabhängig von bakterieller oder viraler Pathogenese – und dadurch unnötige Antibiotikaverordnungen reduzieren. Die meisten Untersuchungen hierzu liegen in Bezug auf Point-of-Care-Tests (POCT) vor. Sie bieten den entscheidenden Vorteil, dass die Ergebnisse innerhalb der aktuellen Konsultation ausgewertet werden können. Hierzu werden in der Regel dreistufige Schnelltest verwendet, welche nach 5–10 min auswertbar sind. Das Ergebnis kann Sicherheit geben, inwieweit ein Antibiotikum indiziert ist. Einem Patienten kann also noch innerhalb der Konsultation Rückversicherung gegeben werden, dass kein abwendbar gefährlicher Verlauf vorliegt. Eine geplante Wiedervorstellung zur Reevaluation der Entscheidung kann zusätzliche Sicherheit geben und Patienten mit hoher Antibiotika-Erwartungshaltung zufriedenstellen (22-24).
3. Systematisches Verordnungsfeedback
Systematisches Verordnungsfeedback kann die Anzahl an verordneten Antibiotika ebenfalls verringern (25). Neuere Untersuchungen zeigen, dass Feedback besonders bei Hoch-Verordnern effektiv ist: Werden diese mit ihrem eigenen (hohen) Verordnungsverhalten konfrontiert, kann durch eine Steigerung des Problembewusstseins eine Verhaltensänderung eintreten. Um aber effektiv zu sein, muss Feedback einige Kriterien erfüllen: Es sollte individualisiert, zielgerichtet, systematisch und vor allem zeitnah erfolgen. Eine Vorrausetzung dafür ist ein Feedbacksystem, dass nahezu in Echtzeit die Routineverordnungspraxis analysieren und individuelles Feedback geben kann. Dies ist derzeit in Deutschland in der Regelversorgung (noch) nicht möglich (22).
Für die Übertragbarkeit der in Studien gewonnenen Erkenntnisse in die Routineversorgung gelten Einschränkungen. So nehmen die meisten Studienteilnehmer freiwillig an Studien teil und sind oft für das Thema bereits sensibilisiert. Die Arbeitsgruppe der Autoren konnte diesbezüglich Daten zeigen, in denen jedoch keine relevanten Unterschiede in der Antibiotikaverordnung zwischen den an Studien teilnehmenden Hausärzten und der Gesamthausarztpopulation aufgezeigt werden konnten (26).
Die meisten Erkenntnisse zur Reduktion unnötiger Antibiotikaverordnungen wurden in den westlichen Industrienationen gewonnen. Dabei gilt zu beachten, dass mehr als 75 % der Zunahme des globalen Antibiotikaverbrauches zwischen 2000 und 2010 den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zugeordnet werden kann. Um eine weitere Zunahme an antimikrobiellen Resistenzen zu verhindern, sollten also Bemühungen zur Förderung einer rationalen Verordnungspraxis dringend auch auf Entwicklungs- und Schwellenländer ausgeweitet werden (27).
Antibiotikaverordnungen in der Primärmedizin, vor allem auch für AWI, erfolgen nicht immer rational und übertreffen zu erwartende Verordnungszahlen. Die jetzige Evidenzlage spricht dafür, dass das Verordnungsverhalten von Primärmedizinern mithilfe gut entwickelter Interventionen jedoch nachhaltig in Richtung eines rationalen Verordnungsverhaltens beeinflusst werden kann. Alle bisherigen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass eine Reduktion des Antibiotikaverbrauches nicht mit Risiken für den Patienten einhergeht (etwa einer Zunahme an stationär behandelten Pneumonien). Die bis jetzt erfolgversprechendsten Ansätze zur Beeinflussung in Richtung einer rationalen Verordnungspraxis sind Kommunikationstrainings, der Einsatz von Labortests, vor allem bei Patienten mit hoher Erwartungshaltung (am besten als POCT), und systematisches Verordnungsfeedback an Hochverordner.
Die Herausforderung besteht nun darin, die Lücke zwischen der generierten Evidenz und der Implementierung dieser Ansätze in eine lokale, regionale und nationale rationale Verordnungspraxis in der Primärmedizin zu überführen (28). Hier setzt beispielsweise die DART-Strategie des Bundesministeriums für Gesundheit an (5).
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.