Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin
Arzneimittel – kritisch betrachtet
Arzneimittel – kritisch betrachtet
Pregabalin wird angewendet zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, bei generalisierter Angststörung sowie als Zusatztherapie bei partiellen epileptischen Anfällen. In epidemiologischen Studien, Fallberichten und Fallserien wurde wiederholt über ein Abhängigkeitspotenzial berichtet. Vor allem Patienten mit komorbider Substanzabhängigkeit (insbesondere bei Konsum von Opioiden) scheinen hiervon betroffen. Bei suchtkranken Menschen sollte daher die Anwendung von Pregabalin vermieden werden. Unter der Behandlung mit Pregabalin sollte auf Anzeichen einer sich entwickelnden Abhängigkeit geachtet werden.
Pregabalin (Lyrica® und andere) ist zugelassen zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen, als Zusatztherapie bei partiellen epileptischen Anfällen sowie bei generalisierter Angststörung (1). Es bindet an eine auxiliare Untereinheit (α2-δ-Protein) von spannungsabhängigen Kalziumkanälen im ZNS. Dadurch wird der depolarisationsabhängige Kalziumeinstrom gehemmt und die Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter moduliert (1-3). Als Analogon der Gamma-Aminobuttersäure (GABA) vermittelt es dosisabhängig indirekt GABAerge Effekte wie Entspannung und Euphorie (2). Es wird nach oraler Einnahme rasch resorbiert und erreicht nach einer Stunde die maximale Plasmakonzentration. Die Bioverfügbarkeit liegt (dosisunabhängig) bei 90 %. Pregabalin wird nicht nennenswert metabolisiert und mit einer mittleren Eliminationshalbwertszeit von etwa sechs Stunden überwiegend unverändert renal ausgeschieden (1;4).
Die häufigsten Nebenwirkungen von Pregabalin sind Benommenheit und Schläfrigkeit. In klinischen Studien waren diese Nebenwirkungen die häufigsten Gründe für einen Abbruch der Therapie. Auch schwerwiegende Nebenwirkungen sind beschrieben (z. B. Neutropenie, QT-Verlängerung, Herzinsuffizienz, Leber- und Nierenversagen). Kürzlich informierte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA über das Risiko der Atemdepression im Zusammenhang mit der Anwendung von Gabapentinoiden (Pregabalin, Gabapentin). Hiervon sind insbesondere Patienten mit respiratorischen Risikofaktoren wie der Einnahme weiterer zentral dämpfender Arzneimittel (z. B. Opioide, Anxiolytika, Antidepressiva, Antihistaminika) betroffen (5). Bei akuter Überdosierung von Pregabalin können Somnolenz, Verwirrtheit, Agitiertheit sowie Krampfanfälle und Koma auftreten (1). Dabei ist die therapeutische Breite groß: Monointoxikationen scheinen eher mit leichter Symptomatik zu verlaufen. Wird Pregabalin jedoch zusätzlich zu anderen sedierenden Arzneimitteln oder Drogen konsumiert, so können lebensbedrohliche Überdosierungen resultieren (4;6). Bei tödlichen Überdosierungen von Drogen wurden häufig Gabapentinoide als „Beikonsum“ nachgewiesen. Ob diese jedoch eine kausale Rolle bezüglich der Letalität spielen, ist bisher nicht geklärt. Denkbar ist ein „Zünglein an der Waage“-Effekt. Anderseits könnten Gabapentinoide auch eine protektive Rolle spielen, indem sie z. B. die gefährlicheren Benzodiazepine aus dem Beikonsummuster von Polytoxikomanen oder Opiatabhängigen verdrängen. Massive orale Überdosierungen mit Pregabalin sind toxischer als solche mit Gabapentin, da Pregabalin im Gegensatz zu Gabapentin keine sättigbare (sondern eine lineare) intestinale Resorptionskinetik besitzt (2;4).
Bei abruptem Absetzen von Pregabalin können Entzugssymptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Diarrhoe, Angst, Hyperhidrose, epileptische Anfälle und delirante Zustände auftreten. Darüber hinaus ist ausgeprägtes Craving beschrieben (1;2;6).
Pregabalin wurde 2004 zugelassen und gehört in Deutschland inzwischen zu den verordnungsstärksten Wirkstoffen: Im Jahr 2018 wurden insgesamt 3,9 Millionen Verordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgestellt. Dies bedeutet einen Verordnungszuwachs von über 6 % gegenüber dem Vorjahr. Es liegt damit an 27. Stelle der verordnungsstärksten Wirkstoffe (7). Pregabalin und Gabapentin werden am häufigsten bei älteren Patienten (≥ 76 Jahre) und über alle Altersklassen hinweg häufiger bei Frauen als bei Männern verordnet (8). Pregabalin wird ganz überwiegend in der Indikation neuropathischer Schmerz eingesetzt (3). Darüber hinaus wird es häufig off-label angewendet, z. B. bei nichtneuropathischem Schmerz, instabiler Stimmungslage und somatoformen Störungen (4). Ferner wurden positive Wirkungen bei der Behandlung von Suchterkrankungen wie Alkohol- (9) und Cannabisabhängigkeit beschrieben (10).
Im Zusammenhang mit Pregabalin wird immer wieder ein mögliches Abhängigkeitsrisiko diskutiert, über welches die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) 2011 informierte (11). Zwar gibt es aus Tierexperimenten bislang keine Belege für ein Abhängigkeitspotenzial (2). Dennoch finden sich in der Literatur einige epidemiologische Studien sowie Fallberichte und Fallserien zum Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin. In diesen wird über die Einnahme von Dosierungen berichtet, die deutlich über der empfohlenen maximalen Tagesdosis liegen. Die mediane Tagesdosis lag bei 2100 mg (Spannweite 800 bis 7500 mg) (6). In vielen solcher Fallberichte wird neben der Einnahme von Pregabalin auch der Konsum anderer Suchtstoffe beschrieben (4;6;12-14). Aber es gibt auch vereinzelt Berichte, bei denen eine primäre Pregabalinabhängigkeit bei Patienten ohne vorbestehende Substanzabhängigkeit wahrscheinlich ist (15;16). Als Gründe für die missbräuchliche Einnahme von Pregabalin werden unter anderem der euphorisierende und entspannende Effekt, die Verstärkung des Effekts anderer psychotroper Substanzen, die Linderung von Entzugssymptomen sowie die leichte Verfügbarkeit dieser in höheren Dosen euphorisierenden Substanz genannt (4;6;17-20).
Bis November 2017 liegen im deutschen Spontanmeldesystem über 2000 Fallberichte zu Pregabalin vor. Mit über 200 Berichten am häufigsten wurde Schwindelgefühl genannt, gefolgt von Somnolenz (ca. 140) und Arzneimittel-/Drogenabhängigkeit (ca. 120). Eine Recherche nach dem SMQ „drug abuse, dependence and withdrawal“ (Standardized MedDRA Query, narrow search) im Zusammenhang mit Pregabalin ergab etwa 300 Berichte (Stand: 04.12.2019).
In einer publizierten Analyse von Spontanmeldungen aus der Europäischen Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen (EudraVigilance) wurden insgesamt über 100.000 Berichte zu Pregabalin identifiziert. Etwa 7600 (6,6 %) bezogen sich auf Missbrauch, Fehlgebrauch und Abhängigkeit. Bei 10 % der Berichte wurden gleichzeitig Opioide eingenommen. Auch andere psychotrope Arzneimittel und Drogen wurden gleichzeitig angewendet. Die Autoren betonen, dass aus diesen Daten nicht das Ausmaß des Missbrauchspotenzials von Pregabalin abgeleitet werden kann. Sie gehen aber eher von einer Unterschätzung aus, da im Spontanmeldesystem die Fälle nicht systematisch erhoben werden (21).
Nach Auskunft des Giftnotrufs der Charité sind die Anfragen zu Pregabalin in den letzten Jahren analog zum Verordnungszuwachs angestiegen. Wurden im Jahr 2013 noch 51 humane Expositionsfälle erfasst, waren diese im Jahr 2018 auf 187 angestiegen (Anstieg um Faktor 3,6). Der Anteil der erfassten Fälle mit missbräuchlicher Einnahme dieses Arzneistoffes hat sich von 4 % im Jahr 2013 auf 27 % im Jahr 2018 erhöht (zum Vergleich: In den Daten des Giftnotrufs beträgt der Anteil der Expositionen mit missbräuchlich verwendeten Arzneistoffen insgesamt 2–3 % der Fälle, während bei Arzneimitteln mit hohem Missbrauchspotenzial wie z.B. Dextromethorphan der Anteil missbräuchlicher Anwendungen im Durchschnitt ca. 40 % ausmacht). Auch bei den Meldungen an den Giftnotruf der Charité ist der Anteil der Pregabalin-Expositionsfälle in Kombination mit anderen Noxen (Mischexpositionen ≥ 2 Noxen) mit 52 % sehr hoch.
In epidemiologischen Studien wird die Prävalenz der Pregabalinabhängigkeit unterschiedlich eingeschätzt. Besonders gefährdet sind Patienten, die Opioide missbräuchlich anwenden. Bei diesen wird die Prävalenz einer Pregabalinabhängigkeit auf bis zu 68 % geschätzt (6). Repräsentative systematische Untersuchungen zur Prävalenz einer Pregabalinabhängigkeit bei nicht anderweitig suchtkranken Menschen liegen unseres Wissens bislang nicht vor (4).
Spontanmeldungen und Berichte in der Literatur deuten darauf hin, dass Pregabalin ein Abhängigkeitspotenzial besitzt. Zwar sind überwiegend suchtkranke Patienten betroffen (insbesondere bei Konsum von Opioiden). In seltenen Fällen wird kasuistisch aber auch über eine Abhängigkeit bei nicht anderweitig abhängigen Patienten berichtet (4).
Vor der Verordnung sollte unbedingt eine sorgfältige Anamnese hinsichtlich einer Abhängigkeitserkrankung erhoben werden. Bei Patienten mit vorbestehender Substanzabhängigkeit sollte Pregabalin vermieden werden (4). Falls die Anwendung wegen Komorbidität erforderlich ist, sollte der Patient engmaschig bezüglich Fehlgebrauch beobachtet werden (1;4). Wegen der günstigeren Pharmakokinetik mit nichtlinearer Resorptionskinetik und geringerer Toxizität bei oraler Überdosierung wäre je nach Indikation ggf. Gabapentin in Erwägung zu ziehen (2;4). Allerdings gibt es Hinweise, dass drogenabhängige Patienten teilweise die sättigbare intestinale Resorption umgehen, indem sie Gabapentin beispielsweise intravenös oder rektal anwenden (18). Dadurch dürfte die Toxizität von Gabapentin deutlich höher sein (2).
Patienten sollten nicht nur über das Risiko von zum Teil gravierenden Entzugssymptomen von Pregabalin aufgeklärt werden (1), sondern auch über die Gefahr der Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung sowie potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen bei Mischkonsum mit Benzodiazepinen, Alkohol oder anderen Drogen. Anzeichen einer sich entwickelnden Abhängigkeit können unter anderem sein, wenn Patienten auf eine höhere Dosierung oder vorzeitig auf ein neues Rezept drängen. Die Behauptung, Medikamente seien verloren oder gestohlen worden und das Bestreben, Rezepte bei unterschiedlichen Ärzten zu besorgen, können ebenfalls Hinweise sein (6). Bei mangelnder Wirksamkeit oder missbräuchlicher Anwendung sollte die Behandlung langsam ausschleichend beendet werden, um ausgeprägte Entzugssymptome zu vermeiden.
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.
Dieser Artikel wurde am 17. Februar 2020 vorab online veröffentlicht.