L-Thyroxin bei Älteren: wann einsetzen?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2024

Rubrik: Das aktuelle Thema

Die Schilddrüse ist die größte Hormondrüse des menschlichen Körpers und weist eine große Bedeutung für die Regulation zahlreicher physiologischer Körperfunktionen auf. Die Schilddrüsenhormone Trijodthyronin (T3) und Thyroxin (T4) wirken in fast allen Körperzellen und sind essenziell für einen funktionsfähigen Energiestoffwechsel. Bei einem Fehlen der Schilddrüse (beispielsweise nach einer Thyreoidektomie) oder bei verminderter Synthese der Schilddrüsenhormone (Hypothyreose), kann eine Substitution mit synthetisch hergestelltem Levothyroxin erfolgen, um den Mangel auszugleichen und die Stoffwechsellage zu normalisieren. Schilddrüsenhormonsubstitution ist bei Hypothyreose jeglicher Genese wie auch bei benigner Struma mit euthyreoter Funktionslage sowie zur Suppressions- und Substitutionstherapie bei Schilddrüsenmalignom indiziert (1).

Altersabhängige Referenzwerte für TSH

In der Diagnostik der Schilddrüsenerkrankungen gilt insbesondere der Spiegel des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH) als geeigneter Indikator für die Schilddrüsenfunktion. Der TSH-Spiegel im Blut ist erhöht, wenn die Schilddrüse eine Unterfunktion hat, und erniedrigt bei einer Schilddrüsenüberfunktion. In seltenen Fällen jedoch, wenn die Hypophyse nicht richtig funktioniert, gibt der TSH-Spiegel die Schilddrüsenfunktion nicht akkurat wieder.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss allerdings berücksichtigt werden, dass mit steigendem Alter der TSH-Wert physiologischerweise ansteigt. In Abhängigkeit vom Alter sollten laut der S2k-Leitlinie „Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis“ der DEGAM folgende TSH-Werte als erhöht interpretiert werden (2):

  • 18 bis 70 Jahre: > 4,0 mU/l
  • 70 bis 80 Jahre: > 5,0 mU/l
  • > 80 Jahre: > 6,0 mU/l

Mit dieser 2023 veröffentlichten Leitlinie sollen hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte sensibilisiert werden für eine kritische Bewertung erhöhter TSH-Werte unter Beachtung unterschiedlicher TSH-Referenzbereiche und der hohen intra- und interindividuellen Variabilität von TSH-Werten. Angestrebt wird eine kontrollierte, individuell angepasste Therapie, unter Abwägen von Nutzen und Risiken für eine individuelle Patientin oder einen individuellen Patienten unter Berücksichtigung von Wohlbefinden, Nebenwirkungen und Risiko für kardiovaskuläre Folgeerkrankungen. Zudem sollen Übertherapie durch Verringerung unnötiger Levothyroxin-Verordnungen und Kombinationstherapien (Jod mit Levothyroxin, T3 mit T4) vermieden werden.

Als nicht mehr medizinisch adäquat gilt die Annahme, dass ein TSH-Wert > 4,0 mU/l unabhängig vom Alter der Patientin bzw. des Patienten als erhöht anzusehen ist. Ein mit zunehmendem Alter physiologischer Anstieg des TSH-Wertes wird als mehrfach belegt angesehen (3-7). Vor allem für die Patientengruppe ≥ 85 Jahre konnte zudem nachgewiesen werden, dass eine latente Hypothyreose nicht mit erhöhter Mortalität assoziiert ist und im Vergleich zu TSH-Werten < 4 mU/l einen Überlebensvorteil bringen kann (8-9).

Für die Bewertung der individuellen TSH-Werte sollten berücksichtigt werden:

  • das Lebensalter,
  • der fT4-Wert,
  • die klinischen Symptome,
  • der Body-Mass-Index (BMI),
  • die Medikation,
  • die Einschränkung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und des gesundheitlichen Allgemeinzustands (Vorliegen akuter Erkrankungen, Komorbiditäten).

Eine Pathologisierung allein aufgrund einer Abweichung vom Referenzbereich der TSH-Werte ist nicht zu rechtfertigen. In Abbildung 1 ist das diagnostische Vorgehen bei erhöhtem TSH-Wert schematisch dargestellt.

CAVE: Das Festlegen regionaler oberer TSH-Referenzwerte für Schwangere erscheint aus Sicht der Autoren nicht zweckmäßig und in der Praxis nicht umsetzbar.

Ein TSH-Screening wird bei asymptomatischen Erwachsenen nicht empfohlen. Bei einem erstmalig festgestellten TSH-Wert über dem jeweiligen altersspezifischen Referenzwert und ≤ 10,0 mU/l sowie unauffälligen anamnestischen Befunden wird zunächst eine Wiederholungsmessung des TSH-Wertes unter Beachtung der Einflussfaktoren zur Verifizierung des Erstergebnisses empfohlen.

Bei einem erstmalig festgestellten TSH-Wert > 10,0 mU/l sollte zusätzlich zur Wiederholungsmessung des TSH-Wertes eine weiterführende Diagnostik eingeleitet werden. Bei Erstbefund eines erhöhten Serum-TSH-Wertes und auffälligen anamnestischen Befunden sollte unabhängig vom Ausmaß der TSH-Erhöhung eine weiterführende Diagnostik eingeleitet werden.

Wenn bei Vorliegen einer latenten Hypothyreose keine medikamentöse Behandlung begonnen wurde, kann der TSH-Wert nach sechs bis zwölf Monaten nochmals kontrolliert werden, um vorübergehende Ursachen (z. B. akute Erkrankungen, Medikamente) für einen erhöhten TSH-Wert auszuschließen. Das Kontrollintervall kann in Abhängigkeit von klinischer Symptomatik und Patientenwunsch verlängert werden.

Indikation zur Hormonsubstitution

Die Indikation zur Hormonsubstitution bei latenter Hypothyreose sollte individuell gestellt werden:

a) Unabhängig vom Alter sollten asymptomatische Patientinnen und Patienten mit leicht erhöhtem TSH (≤ 10 mU/l) nicht substituiert werden.

b) Bei Patientinnen und Patienten ≤ 75 Jahre mit latenter Hypothyreose sollte eine Therapie eingeleitet werden bei einem TSH-Wert > 10 mU/l.
In Abhängigkeit von der klinischen Symptomatik und dem Patientenwunsch kann ein Therapieverzicht unter Kontrolle des TSH-Wertes (bis TSH < 20 mU/l) eine Alternative sein. Notwendige Voraussetzung dafür ist die umfassende Aufklärung der Patientin bzw. des Patienten über die möglichen Konsequenzen der verschiedenen Vorgehensweisen.

c) Bei Patientinnen und Patienten > 75 Jahre mit latenter Hypothyreose (bis TSH < 20 mU/l) kann auf eine Hormonsubstitution verzichtet werden.

Die Initialdosis von Levothyroxin sollte individuell abhängig von Alter, Gewicht, kardialem Status sowie der Schwere der Hypothyreose mit einem TSH-Zielkorridor zwischen 0,4 und 4,0 mU/l festgelegt werden. Folgende Initialdosen werden empfohlen:

a) Patientinnen und Patienten mit manifester Hypothyreose < 60 Jahre ohne Komorbiditäten:
1,6 µg/kg Körpergewicht.

b) Patientinnen und Patienten mit manifester Hypothyreose ≥ 60 Jahre und/oder mit kardiovaskulären Erkrankungen:
0,3–0,4 µg/kg Körpergewicht.

c) Patientinnen und Patienten mit latenter Hypothyreose: 25 bis 50 µg/Tag.

Die Dosisanpassung sollte individuell orientiert an den laborchemisch ermittelten Schilddrüsenwerten und dem subjektiven Wohlbefinden/Beschwerden erfolgen.

Fazit für die Praxis

Der TSH-Wert steigt physiologischerweise mit dem Alter. Daher ist ein einheitlicher TSH-Referenzwert für alle Altersklassen nicht sachgerecht. Medizinische Labore geben aber weiterhin altersunabhängige Referenzwerte sowie Empfehlungen zu Beginn einer Substitutionstherapie an. Die DEGAM hat daher 2023 eine neue Leitlinie veröffentlicht, um hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte für eine kritische Bewertung erhöhter TSH-Werte unter Beachtung unterschiedlicher TSH-Referenzbereiche und der hohen intra- und interindividuellen Variabilität von TSH-Werten zu sensibilisieren. Durch eine individuelle Indikationsstellung und angepasste Therapie – unter Abwägen von Nutzen und Risiken für eine individuelle Patientin oder einen individuellen Patienten – sollen Übertherapie und Nebenwirkungen vermieden werden. Medizinische Labore sollten eine altersspezifische Differenzierung in die Befundberichte zu TSH-Werten aufnehmen.

Literatur

  1. Betapharm Arzneimittel GmbH. Fachinformation „L-Thyroxin beta 25 μg, Tabletten“; März 2023.
  2. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. S2k-Leitlinie Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis. AWMF-Register-Nr. 053-046; DEGAM-Leitlinie Nr. 18; 2023. Verfügbar unter: register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-046.
  3. Surks MI, Hollowell JG. Age-specific distribution of serum thyrotropin and antithyroid antibodies in the US population: implications for the prevalence of subclinical hypothyroidism. J Clin Endocrinol Metab 2007; 92(12):4575–82. doi: 10.1210/jc.2007-1499.
  4. Bremner AP, Feddema P, Leedman PJ, Brown SJ, Beilby JP, Lim EM et al. Age-related changes in thyroid function: a longitudinal study of a community-based cohort. J Clin Endocrinol Metab 2012; 97(5):1554–62. doi: 10.1210/jc.2011-3020.
  5. Waring AC, Arnold AM, Newman AB, Bùzková P, Hirsch C, Cappola AR. Longitudinal changes in thyroid function in the oldest old and survival: the cardiovascular health study all-stars study. J Clin Endocrinol Metab 2012; 97(11):3944–50. doi: 10.1210/jc.2012-2481.
  6. Vadiveloo T, Donnan PT, Murphy MJ, Leese GP. Age- and gender-specific TSH reference intervals in people with no obvious thyroid disease in Tayside, Scotland: the Thyroid Epidemiology, Audit, and Research Study (TEARS). J Clin Endocrinol Metab 2013; 98(3):1147–53. doi: 10.1210/jc.2012-3191.
  7. Chaker L, Korevaar TIM, Medici M, Uitterlinden AG, Hofman A, Dehghan A et al. Thyroid Function Characteristics and Determinants: The Rotterdam Study. Thyroid 2016; 26(9):1195–204. doi: 10.1089/thy.2016.0133.
  8. Gussekloo J, van Exel E, Craen AJM de, Meinders AE, Frölich M, Westendorp RGJ. Thyroid status, disability and cognitive function, and survival in old age. JAMA 2004; 292(21):2591–9. doi: 10.1001/jama.292.21.2591.
  9. Pearce SHS, Razvi S, Yadegarfar ME, Martin-Ruiz C, Kingston A, Collerton J et al. Serum Thyroid Function, Mortality and Disability in Advanced Old Age: The Newcastle 85+ Study. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101(11):4385–94. doi: 10.1210/jc.2016-1935.

Interessenkonflikte

Die Autoren geben an, keine Interessenkonflikte zu haben.