Guillain-Barré-Syndrom nach Impfungen

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2023

Rubrik: Fallberichte

Weitere Autorin: Dr. P.H. Stanislava Dicheva-Radev, Berlin

Fallberichte

Der AkdÄ wurde der Fall einer 66-jährigen Patientin berichtet, bei der neun Tage nach einer ersten Impfung mit Shingrix® zuerst Kribbelparästhesien in beiden Füßen und Unterschenkeln bis zu den Knien auftraten. Am nächsten Tag entwickelten sich auch Missempfindungen in den Fingerspitzen und zunehmende Schwäche der Beine, sodass sie sich notfallmäßig im Krankenhaus vorstellte. Es bestand keine Blasen- oder Mastdarmstörung, ein Infekt oder Fieber in den letzten Tagen/Wochen wurde verneint. Die MRT-Untersuchung der gesamten Wirbelsäule ergab keinen Anhalt für eine spinale Raumforderung, aber eine Signalsteigerung der Cauda-Fasern ohne Kontrastmittelanreicherung. In einer CT-Untersuchung des Kopfes fand sich kein Hinweis auf eine frische intrakranielle Blutung oder Infarktdemarkation. Laborchemisch fanden sich keine wegweisenden Auffälligkeiten sowie keine Hinweise auf eine Vaskulitis, Borrelieninfektion oder Sarkoidose. Die Liquorpunktion sowie die Erregerdiagnostik erbrachten keinen Befund. Zusammenfassend wurde die Diagnose eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) gestellt. Es sprachen insbesondere die aufsteigende Entwicklung der Beschwerden sowie der elektrophysiologische Befund (Verlust von F-Wellen bei Nachweis von A-Wellen) für ein GBS. Zunächst erfolgte die Therapie mit intravenösen Immunglobulinen. Am zweiten Tag kam es zu einer erheblichen Verschlechterung, sodass eine Plasmapherese-Therapie durchgeführt wurde. Hierunter zeigte sich eine eindrückliche Besserung der klinischen Symptomatik der Patienten im Verlauf; insbesondere besserte sich das Kraftniveau der oberen Extremitäten beidseits.

In einem weiteren Fall kam es bei einem 15-jährigen Mädchen etwa einen Monat nach einer Injektion von Encepur® als Auffrischimpfung zu distalen Gefühlstörungen mit Parästhesien und langsam zunehmenden distal betonten Lähmungen. Stehen und Gehen waren unsicher, aber stets noch möglich. Die Infektionsserologie ergab keine weiterführenden Befunde. Ein vorausgehender Infekt war nicht eruierbar. Bei Verdacht auf GBS erfolgte eine Lumbalpunktion, die eine zytoalbuminäre Dissoziation zeigte. Der elektrophysiologische Befund zeigte eine für GBS typische Veränderungen (verlängerte distal motorische Latenzen, leicht herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit, verzögerte F-Wellen-Latenzen). Im MRT der Wirbelsäule zeigte sich kein Hinweis auf eine Myelitis, aber passend zum GBS eine vermehrte piale Anreicherung des Conus medullaris und der Vorderwurzeln. Unter der Gabe von Immunglobulinen besserten sich der Zustand der Patientin und ihre Mobilität.

Arzneimittel

Shingrix® ist ein rekombinanter, adjuvantierter Herpes-Zoster-Impfstoff, der zur Vorbeugung von Herpes Zoster (HZ) und postzosterischer Neuralgie indiziert ist bei Erwachsenen im Alter von ≥ 50 Jahren sowie bei Erwachsenen im Alter ≥ 18 Jahren und mit erhöhtem Risiko für HZ (1).

Encepur® ist ein inaktivierter Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)-Impfstoff, der zur aktiven Immunisierung bei Personen ab 12 Jahren gegen FSME indiziert ist (2).

Krankheitsbild

Das GBS ist eine idiopathische Polyneuritis der spinalen Nervenwurzeln und peripheren Nerven, mit einer Inzidenz von etwa 1–2 pro 100.000 Einwohner, Hirnnerven sind seltener betroffen. Ein GBS kann in jedem Lebensalter auftreten, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Die genaue Ätiologie des GBS ist noch unklar. Derzeit wird eine Autoimmunerkrankung angenommen, bei der IgG- oder IgM-Autoantikörper gegen Ganglioside oder Myelin bzw. gegen die Zellmembranen der Axone des peripheren Nervensystems gebildet werden. Als auslösende Faktoren gelten Infektionen mit bestimmten Erregern und Impfungen (3, 4).

Bewertung der Kausalität

Der Verlauf der Erkrankung ist in beiden berichteten Fällen gut mit einem GBS vereinbar, auch wenn der Liquorbefund bei der ersten Patientin nicht charakteristisch war, was aber bei einer Punktion früh im Krankheitsverlauf häufig vorkommt. Immunologische Stimuli wie Infekte, aber auch Impfungen sind bekannte Trigger eines GBS. Bei fehlendem vorausgehendem Infekt und einem typischen Intervall zur Impfung ist die Impfung als Ursache wahrscheinlich.

GBS ist als mögliche Nebenwirkung in den Fachinformationen vieler Impfstoffe aufgelistet, zum Beispiel Impfstoffe gegen Pneumokokken oder gegen Influenza; Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie, Poliomyelitis und Tetanus; sechsfach Impfstoffe gegen Diphtherie, Haemophilus influenzae B, Pertussis, Poliomyelitis, Tetanus und Hepatitis B; Lebendimpfstoffe gegen Masern, Mumps und Röteln oder gegen Varicella Zoster (Quelle: aktuelle Fachinformationen der jeweiligen Impfstoffe im PharmNet.Bund, Zugriff über: https://portal.dimdi.de/amguifree/am/search.xhtml).

Für Shingrix® ist GBS nicht als mögliche Nebenwirkung in der Fachinformation gelistet. Unter 4.4 „Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung“ findet man aber den Hinweis, dass in einer Beobachtungsstudie nach der Markteinführung bei Personen im Alter von ≥ 65 Jahren, während der 42 Tage nach der Impfung mit Shingrix® ein erhöhtes Risiko für das GBS beobachtet wurde, mit geschätzt drei zusätzlichen Fällen pro eine Million verabreichter Dosen. Die vorliegenden Informationen reichten aber nicht aus, um einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung zu bestimmen.

Bei Encepur® ist GBS weder als mögliche Nebenwirkung in der Fachinformation gelistet, noch finden sich weitere Hinweise auf ein mögliches Risiko.

In der EudraVigilance-Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen (5) finden sich zum 12.10.2023 206 Meldungen zu GBS nach Impfung mit Shingrix® sowie 117 Meldungen zu GBS nach Impfung gegen FSME (eine Unterscheidung nach den einzelnen verfügbaren Impfstoffen Encepur® und FSME immun® ist im öffentlichen verfügbaren Teil der Datenbank nicht möglich). Es ist zu berücksichtigen, dass Meldungen von Verdachtsfällen nicht identisch mit Nebenwirkungen sind. Die Anzahl von Verdachtsfallmeldungen erlaubt keinen Rückschluss auf die tatsächliche Häufigkeit der gemeldeten Reaktion in der geimpften Population, da die Anzahl der geimpften Personen nicht bekannt ist. Ein Rückschluss auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem gemeldeten Verdachtsfall einer Nebenwirkung und einer Impfung kann allein aufgrund dieser Daten nicht getroffen werden.

Goud et al. (6) haben ein leicht erhöhtes GBS-Risiko nach Shingrix®-Impfung gefunden, aber auch die Erkrankung selbst (Herpes zoster) ist mit einem erhöhten GBS-Risiko assoziiert (7).

Fazit für die Praxis

Impfungen können genauso wie Infektionen einen GBS auslösen. Bei entsprechender Symptomatik (die allerdings im Frühstadium auch noch sehr unspezifisch sein kann) und kürzlich vorausgegangenen Impfungen sollte an GBS gedacht werden. Fälle von GBS nach Impfungen sollten der AkdÄ gemeldet werden. 

Literatur

  1. GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG. Fachinformation Shingrix®; Dezember 2022.
  2. Bavarian Nordic A/S. Fachinformation Encepur® Erwachsene; Mai 2023.
  3. Stowe J, Andrews N, Miller E. Do Vaccines Trigger Neurological Diseases? Epidemiological Evaluation of Vaccination and Neurological Diseases Using Examples of Multiple Sclerosis, Guillain-Barré Syndrome and Narcolepsy. CNS Drugs 2020; 34(1):1–8. doi: 10.1007/s40263-019-00670-y.
  4. Stone CA, Rukasin CRF, Beachkofsky TM, Phillips EJ. Immune-mediated adverse reactions to vaccines. Br J Clin Pharmacol 2019; 85(12):2694–706. doi: 10.1111/bcp.14112.
  5. Europäische Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen [Stand: 12.10.2023]. Verfügbar unter: www.adrreports.eu/de/index.html.
  6. Goud R, Lufkin B, Duffy J, Whitaker B, Wong H-L, Liao J et al. Risk of Guillain-Barré Syndrome Following Recombinant Zoster Vaccine in Medicare Beneficiaries. JAMA Internal Medicine 2021; 181(12):1623–30. doi: 10.1001/jamainternmed.2021.6227.
  7. Anderson TC, Leung JW, Harpaz R, Dooling KL. Risk of Guillain-Barré syndrome following herpes zoster, United States, 2010-2018. Hum Vaccin Immunother 2021; 17(12):5304–10. doi: 10.1080/21645515.2021.1985890.

Interessenkonflikte

Die Autoren geben an, keine Interessenkonflikte zu haben.