Miracle Mineral Supplement: akzidentelle Ingestion durch ein Kleinkind

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2023

Fallberichte

Weiterer Autor: Prof. Dr. med. Bernd Mühlbauer, Bremen

Fallbericht

Der AkdÄ wurde der Fall eines 2,5-jährigen Jungen berichtet, der versehentlich eine 25%ige Natriumchlorit-Lösung einnahm. Die Lösung war dem Großvater als „Darmkur“ von einem Heilpraktiker empfohlen worden. Zwar hatte der Junge noch versucht, die Lösung wieder auszuspucken, dies gelang aber nicht oder nur teilweise. Zeitnah setzten Erbrechen und Durchfall ein und der Zustand des Kindes verschlechterte sich rapide. Bei Aufnahme im Krankenhaus zeigte sich bereits ein grau-fahles Hautkolorit, Lippenzyanose und eine Sauerstoffsättigung von 67 %. Das Kind musste intubiert werden. In der Blutgasanalyse zeigte sich eine ausgeprägte Methämoglobinämie, die mit Methylenblau und Ascorbinsäure behandelt wurde. Zudem wurden aufgrund einer hämolytischen Anämie Erythrozytenkonzentrate transfundiert. In der Ösophagogastroduodenoskopie am nächsten Tag war die Magenschleimhaut komplett mit blutigen Erosionen überzogen. Im späteren Verlauf wurde zudem von einer Aspirationspneumonie ausgegangen, sodass eine Antibiose mit Piperacillin und Tazobactam i.v. über fünf Tage erfolgte. Nach klinischer Restitution konnte das Kind entlassen werden.

Natriumchlorit-Lösung

Natriumchlorit (NaClO2) – nicht zu verwechseln mit dem Kochsalz Natriumchlorid (NaCl) – ist das Natriumsalz der Chlorigen Säure. Es wird als Bleich- und Desinfektionsmittel verwendet.

Unter dem Namen Miracle Mineral Supplement oder Master (bzw. Miracle) Mineral Solution (MMS) wird eine 28%ige Natriumchlorit-Lösung zusammen mit einem „Aktivator“ (Citronensäure-, Milchsäure- oder Salzsäure-Lösung) vertrieben (1). Durch die Zugabe des „Aktivators“ entstehen Chlordioxid (ein giftiges Gas mit stechendem, chlorähnlichem Geruch) und Natriumchlorat. Die Anwendung erfolgt per os, als rektale Einläufe oder Bäder. MMS wird seit Jahren als Wunder- und Allheilmittel für diverse Erkrankungen wie Autismus, Malaria, Krebserkrankungen, AIDS und Alzheimer beworben. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie geriet MMS erneut verstärkt in den Fokus, nachdem es Berichte über angebliche Studien und Behandlungserfolge gegeben hatte (2).

Die Wirksamkeit der Behandlung ist für keine einzige Erkrankung in klinischen Studien belegt. Es fehlt zudem jegliche Plausibilität eines möglichen Wirkmechanismus, bei dem selektiv nur Pathogene eliminiert werden sollen, ohne dass gesundes menschliches Gewebe angegriffen und geschädigt wird (3).

Nach der Einnahme von MMS können unter anderem Übelkeit, Erbrechen und Durchfall auftreten, die zu lebensbedrohlicher Dehydratation und Nierenversagen führen können. Weiterhin kann es zu Haut- und Schleimhautreizungen bis hin zu Verätzungen kommen. Auch Augenverletzungen sowie Atemwegsbeschwerden sind durch die Gasbildung möglich (3;4). Den Giftnotrufzentralen liegen Fälle von Erbrechen, Atemstörungen und Hautverätzungen bei der Einnahme von MMS vor (1;4). Das GIZ-Nord (zuständig für Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) registrierte zwischen 2010 und 2020 98 Vergiftungen mit Chlordioxid und MMS. Beim Giftinformationszentrum Erfurt (zuständig für Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) gab es zwischen 2011 und 2021 52 Meldungen über Vergiftungen mit MMS (1).

Warnungen vor MMS

Mehrere Gesundheitsbehörden (u. a. in den USA, in der Schweiz, Kanada, Großbritannien) haben in den letzten Jahren vor MMS gewarnt und teilweise auch konkrete Maßnahmen zum Verbraucherschutz ergriffen (1;3;4). Im Juli 2012 riet das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) dringend von dem Verzehr und der Verwendung von MMS ab (3).

Im Februar 2015 stufte das BfArM zwei MMS-Produkte als zulassungspflichtig ein (4). Diese galten als sogenannte Präsentationsarzneimittel, weil der Hersteller eindeutige Heilversprechen mache und arzneiliche Zweckbestimmungen angebe. Weiterhin würden genaue Dosierungsangaben und Hinweise auf die Möglichkeit starker Nebenwirkungen wie Durchfall und Übelkeit angegeben, sowie Verweise auf das Buch „Der Durchbruch“ von Jim Humble, in dem Anwendung und Wirksamkeit von MMS etwa bei Malaria und Krebs beschrieben werden. Dies bedeutet, dass die Produkte als Arzneimittel zugelassen werden müssten und dann nur auf den Markt gebracht werden dürften, wenn der pharmazeutische Unternehmer die Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit dieser nachgewiesen hat.

Zusätzlich stufte das BfArM beide Produkte als bedenkliche Arzneimittel nach § 5 Arzneimittelgesetz ein, weil mit der Einnahme schädliche Wirkungen verbunden sind, die über ein vertretbares Maß hinausgehen.

Bewertung der Kausalität

Der Zusammenhang zwischen der Einnahme von Natriumchlorit-Lösung und den berichteten schwerwiegenden Nebenwirkungen (Methämoglobinämie und blutige Magenschleimhauterosionen) ist evident und als sicher einzustufen (1;3).

Fazit für die Praxis

Natriumchlorit-Produkte und MMS sind keine zugelassenen Arzneimittel. Sie wurden nicht in klinischen Studien geprüft. Die Anwendung einer 25%igen Natriumchlorit-Lösung kann zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden führen. Die Behandlung mit MMS ist eindeutig als Quacksalberei einzustufen. Patientinnen und Patienten sollten explizit davor gewarnt werden.

Literatur

  1. März S: Darum geht es bei Chlordioxid und MMS: https://medwatch.de/alternativmedizin/medwatch-check-darum-sind-chlordioxid-und-mms-gefaehrlich/ (letzter Zugriff: 23. Mai 2023). MedWatch-Check XXL. Stand: 21. November 2022.
  2. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen: Miracle Mineral Supplement (MMS): Erhebliche Gesundheitsgefahr: https://www.verbraucherzentrale.nrw/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/miracle-mineral-supplement-mms-erhebliche-gesundheitsgefahr-11044 (letzter Zugriff: 23. Mai 2023). Stand: 22. März 2023.
  3. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): BfR rät von der Einnahme des Produkts „Miracle Mineral Supplement“ („MMS“) ab: https://www.bfr.bund.de/cm/343/bfr-raet-von-der-einnahme-des-produkts-miracle-mineral-supplement-mms-ab.pdf (letzter Zugriff: 23. Mai 2023). Stellungnahme Nr. 025/2012 vom 2. Juli 2012.
  4. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stuft zwei „Miracle Mineral Supplement“-Produkte als zulassungspflichtig und bedenklich ein: https://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/pm3-2015.html (letzter Zugriff: 23. Mai 2023). Pressemitteilung 3/15 vom 26. Februar 2015.

Interessenkonflikte

Die Autoren geben an, keine Interessenkonflikte zu haben.