Diskussion zu den aktualisierten USPSTF-Empfehlungen 2022 zur Primärprävention von kardiovaskulären Erkrankungen mit Statinen

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2023

Therapie aktuell

Aktualisierte Empfehlungen der U.S. Preventive Services Task Force

Im August 2022 wurden die aktualisierten Empfehlungen der United States Preventive Services Task Force (USPSTF) zur Primärprävention von kardiovaskulären Erkrankungen mit Statinen in JAMA veröffentlicht (1). Bei der systematischen Literatursuche wurden drei weitere randomisierte Studien gefunden, die die Gabe von Statinen in der Primärprävention vs. Placebo oder kein Statin untersuchten. Diese wurden der vorausgegangen Suche von 2016 hinzugefügt (vorher 19, jetzt 22 randomisierte kontrollierte Studien (RCT), Anzahl der Studienteilnehmer vorher 71.344, jetzt 90.624). Interessanterweise gingen dabei die Effekte für die untersuchten Endpunkte leicht zurück (Tabelle 1).

Die drei Empfehlungen aus dem Jahr 2016 wurden in den aktuellen Empfehlungen 2022 bestätigt. Bei 40- bis 75-jährigen Erwachsenen, die keine bekannte kardiovaskuläre Erkrankung, aber mindestens einen kardiovaskulären Risikofaktor haben (Dyslipidämie, Diabetes, Hypertonie oder Rauchen), wird bei einem geschätzten 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis von ≥ 10 % ein moderater Nettonutzen angenommen. Bei einem Risiko von 7,5 bis weniger als 10 % gehen die Empfehlungen von einem geringen Nettonutzen aus. Bei letzterem sollte man es von der Patientenpräferenz abhängig machen, ob die Behandlung mit einem Statin begonnen wird oder nicht. Für Erwachsene ab 76 Jahre ist die Evidenzlage unzureichend, sodass für diese Gruppe keine Aussage getroffen werden kann (Tabelle 2).

Die Empfehlungen gelten nicht für Personen, die einen LDL-Cholesterinwert von über 190 mg/dl oder eine bekannte familiäre Hypercholesterinämie haben. Diese gelten als Hochrisikogruppe und sollten daher nach anderen Leitlinien (z. B. ACC/AHA) behandelt werden.

Es gibt nur wenig Evidenz, um unterschiedliche Statindosierungen zu beurteilen. Außerdem gab es keine Studie, die eine Titrierung der Statindosis untersuchte, um bestimmte LDL-Zielwerte zu erreichen. Die USPSTF empfiehlt daher mittlere Statindosierungen, da diese am häufigsten in Studien eingesetzt wurden.

Es gab in 19 RCT und drei Beobachtungsstudien keine Hinweise für erhöhte Risiken für Studienabbrüche durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Myalgien traten unter Placebo ähnlich häufig wie unter Statinen auf. Auch die Häufigkeit von Myopathie, Rhabdomyolyse, Transaminase-Erhöhungen, Malignomen, Diabetes oder kognitiven Einschränkungen war nicht signifikant erhöht.

Stellenwert der Empfehlungen

Die USPSTF-Empfehlungen werden in zwei Editorials diskutiert. Im begleitenden Editorial von Ann Marie Navar und Eric D. Peterson (2) in derselben Ausgabe von JAMA werden die USPSTF-Empfehlungen mit der Leitlinie des American College of Cardiology und der American Heart Association (ACC/AHA) verglichen und diskutiert (3). Beide orientieren sich am 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Die ACC/AHA-Leitlinie empfiehlt eine Statintherapie bereits ab einem 10-Jahres-Risiko von 7,5 % mit einer Klasse I-Empfehlung und einer Klasse-II-Empfehlung bei einem 10-Jahres-Risiko von 5–7,5 %, abhängig von Patientenpräferenz, Risiko und weiteren Faktoren, die das Risiko erhöhen (z. B. metabolisches Syndrom, chronische Nierenerkrankung, positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen). Darüber hinaus empfiehlt die ACC/AHA-Leitlinie Statine allerdings auch für Patienten mit Diabetes mellitus und für Patienten mit einem LDL-Cholesterin > 190 mg/dl (unabhängig vom 10-Jahres-Risiko).

Im Editorial von Navar und Peterson wird argumentiert, dass die Grundlage für das 10-Jahres-Risiko ein Expertenkonsensus und nicht RCT-Evidenz wäre, da diese nicht auf Basis von 10-Jahres-Risiken durchgeführt wurden. Des Weiteren wird argumentiert, dass man den kausalen Zusammenhang zwischen LDL und Progression von Atherosklerose vernachlässigen würde und dass insbesondere jüngere Personen untertherapiert würden, auch wenn das Lebenszeitrisiko über mehrere Jahrzehnte entsprechend hoch sei. Die Autoren schlagen daher vor, zunächst den LDL-Wert zu berücksichtigen und dann möglichst ein 30-Jahres-Risiko oder sogar ein Gesamtlebenszeitrisiko zu verwenden.

In einem weiteren Editorial, das von Habib, Katz und Redberg im Oktober in JAMA Internal Medicine publiziert wurde, wird ebenfalls auf die USPSTF-Empfehlungen eingegangen (4). Hier wird die Bedeutung der Primärprävention mit Statinen relativiert. Zum einen wird ein systematischer Review diskutiert, der sich auf die Primärprävention bei Patienten mit hohem Risiko beschränkte (5). Dabei wurde interessanterweise kein Nutzen hinsichtlich der Gesamtmortalität gefunden, ebenso kein signifikanter Nutzen hinsichtlich der kardiovaskulären Mortalität. In den zwölf zugrunde liegenden Studien gab es keine statistisch signifikante Heterogenität und der fehlende Nutzen blieb auch in Sensitivitätsanalysen bestehen. Dieses Ergebnis im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich auch im für die aktuellen USPSTF-Empfehlungen durchgeführten Review keine signifikante Reduktion der kardiovaskulären Mortalität zeigte, lässt die Autoren an der Reliabilität der reduzierten Gesamtmortalität zweifeln. Bemerkenswert ist, dass 19 von 22 eingeschlossenen Studien durch pharmazeutische Unternehmer finanziert wurden, so dass auch ein Bias beim Randomisierungsprozess oder bei der Auswertung möglich erscheint. Insgesamt betonen die Autoren die Unsicherheit bei der Risikoschätzung. Hierzu gehören auch die Heterogenität der Einschlusskriterien der in die Reviews eingeschlossenen Studien und die fehlende Datentransparenz bei den Studien, die über die Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaborative zusammengeführt werden. Es ist nicht nachvollziehbar, dass im Jahr 2022 diese Daten von den pharmazeutischen Unternehmern zurückgehalten werden.

Außerdem betont das Editorial von Habib et al., dass es wichtig sei, auch die klinische Bedeutung der Ergebnisse den statistisch signifikanten Ergebnissen gegenüberzustellen. Zum einen ist der absolute Nutzen der Statintherapie bei Niedrigrisikogruppen gering, zum anderen wird auch das Risiko durch die „Pooled cohort equations“ (PCE), die auf Studien aus den 70er und 80er Jahren beruhen, tendenziell überschätzt, insbesondere bei sinkender Inzidenz von kardiovaskulären Ereignissen in den letzten Jahren (6-8).

Erfreulich in diesem Zusammenhang, dass bei Verwendung des arriba-Instruments, das in deutschen Hausarztpraxen zur Risikoprädiktion und gemeinsamen Entscheidungsfindung verwendet wird, in einer Validierungsstudie in Mecklenburg-Vorpommern die geschätzten Risiken mit den tatsächlich eingetretenen Ereignissen insgesamt gut übereinstimmten. Bei jüngeren Erwachsenen und bei Frauen wurde das Risiko allerdings ebenfalls überschätzt (9).

Fazit für die Praxis

Die aktualisierten Empfehlungen der U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF) zum Einsatz von Statinen in der Primärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen empfehlen weiterhin die Betrachtung des Gesamtrisikos, innerhalb der nächsten zehn Jahre ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleben. Die Schwelle wird aber tiefer angesetzt, ab 7,5 % wird bereits von einem kleinen Nettonutzen und ab 10 % von einem mäßigen Nettonutzen ausgegangen. Für Deutschland stellt sich die Frage, ob man im Bereich 10–20 % Gesamtrisiko im Rahmen der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit den Patienten nicht auch eine Statintherapie in Erwägung ziehen sollte, insbesondere bei jüngeren Personen mit einer Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten.

Literatur

  1. US Preventive Services Task Force: Statin Use for the Primary Prevention of Cardiovascular Disease in Adults: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA  2022; 328: 746-753.
  2. Navar AM, Peterson ED. Statin recommendations for primary prevention: more of the same or time for a change? JAMA 2022; 328 (8): 716-718.
  3. Grundy SM, Stone NJ, Bailey AL et al.: 2018 AHA/ACC/AACVPR/AAPA/ABC/ACPM/ADA/AGS/APhA/ASPC/NLA/PCNA Guideline on the Management of Blood Cholesterol: Executive Summary: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. J Am Coll Cardiol 2019; 73: 3168-3209.
  4. Habib AR, Katz MH, Redberg RF: Statins for primary cardiovascular disease prevention: time to curb our enthusiasm. JAMA Intern Med 2022; 182: 1021-1024.
  5. Ray KK, Seshasai SRK, Erqou S et al.: Statins and all-cause mortality in high-risk primary prevention: a meta-analysis of 11 randomized controlled trials involving 65,229 participants. Arch Intern Med 2010; 170: 1024-1031.
  6. DeFilippis AP, Young R, Carrubba CJ et al.: An analysis of calibration and discrimination among multiple cardiovascular risk scores in a modern multiethnic cohort. Ann Intern Med 2015; 162: 266-275.
  7. Yadlowsky S, Hayward RA, Sussman JB et al.: Clinical implications of revised pooled cohort equations for estimating atherosclerotic cardiovascular disease risk. Ann Intern Med 2018; 169: 20-29.
  8. Gupta H, Schiros CG, Sharifov OF et al.: Impact of clinical input variable uncertainties on ten-year atherosclerotic cardiovascular disease risk using new pooled cohort equations. BMC Cardiovasc Disord 2016; 16: 165.
  9. Angelow A, Klötzer C, Donner-Banzhoff N et al.: Validation of cardiovascular risk prediction by the arriba instrument – an analysis based on data from the Study of Health in Pomerania. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 476-482.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.