Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: PRISCUS 2.0 – erste Aktualisierung der PRISCUS-Liste

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2023

Das aktuelle Thema

Multimedikation ist insbesondere bei betagten Patienten regelhaft vorhanden und seit Jahren zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen und Thema in der ärztlichen Fortbildung. Spezifische Handlungsempfehlungen gibt es sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international wie die PRISCUS-Liste oder die kanadischen „Deprescribing guidelines for the elderly“ (1). Trotzdem fällt es offensichtlich Ärzten, Patienten und teilweise auch Angehörigen schwer, gewohnte oder über längere Zeit eingenommene Arzneimittel abzusetzen („Deprescribing“) oder das Absetzen zu akzeptieren.  

Leider ist nicht viel belastbare Evidenz zu finden, mit welchen klinisch relevanten Konsequenzen bei der Verringerung von Multimedikation zu rechnen ist. Solche Untersuchungen bedürfen einer validen Kontrolle, weil Reduktion oder Veränderung der gewohnten Medikation zu unerwünschten Effekten wie pharmakodynamisch plausibler Entzugssymptomatik führen kann, aber auch zu psychologischer Verunsicherung bei den Patienten, etwa der Befürchtung, eine notwendige Therapie aus ökonomischen Gründen vorenthalten zu bekommen (2).

Vor diesem Hintergrund kann eine Liste potenziell ungünstiger Medikamente in der täglichen Praxis hilfreich sein, da mögliche Gefahren der Multimedikation beleuchtet und auch den Patienten erklärt werden können.

Erste PRISCUS-Liste

Als potenziell inadäquate Medikation (PIM) werden Wirkstoffe bezeichnet, die für ältere Menschen möglicherweise ungeeignet sind und vermieden werden sollten. Die PRISCUS-Liste fand als erste für den deutschen Arzneimittelmarkt entwickelte PIM-Liste seit 2010 Eingang in die Praxis (3). So wurde berichtet, dass der Anteil der Patienten ab 65 Jahren, die mindestens ein PIM pro Jahr erhielten, im Zeitraum 2009–2019 von 24 % auf 14,5 % gesunken ist (4). Diese PRISCUS-Liste bedurfte dringend einer Aktualisierung. Die Arbeitsgruppe um Petra Thürmann, Witten/Herdecke, hat nun Ende 2022 die lang erwartete Überarbeitung präsentiert: PRISCUS 2.0 (4).

PRISCUS 2.0: Neue Daten, neue Einstufungen

In einem dreistufigen Delphi-Verfahren wurde von knapp 60 Expertinnen und Experten aus klinischer Praxis und wissenschaftlicher Medizin die Evidenz bewertet, ob Wirkstoffe, die als für betagte Patienten potenziell problematisch identifiziert wurden, tatsächlich als klinisch relevante PIM eingestuft werden müssen. Um die tägliche Verordnungsrealität im deutschsprachigen Raum abzubilden, wurden im Bewertungsverfahren Verordnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland und Österreich herangezogen. Grundlage der Bewertung bildeten einerseits systematische Literaturrecherchen und andererseits eigens für das Projekt erstellte systematische Reviews.

PRISCUS 2.0 stuft nun 177 Wirkstoffe/Wirkstoffklassen als PIM ein. Im Vergleich zur ersten PRISCUS-Liste wurden sechs Wirkstoffe nicht in die Vorschlagsliste aufgenommen, da sie entweder nicht mehr auf dem Markt waren (z. B. Zaleplon) oder kaum noch bei Patienten ab 65 Jahren verschrieben wurden (z. B. Triprolidin). Nitrofurantoin wurde im Gegensatz zur Bewertung in der originalen PRISCUS-Liste nicht mehr eindeutig als PIM eingestuft.

Insgesamt 133 Wirkstoffe wurden neu als PIM aufgenommen, wovon jedoch neun aktuell nicht verfügbar (z. B. Rilmenidin) bzw. nicht verordnungsfähig sind (z. B. Reboxetin). Diese erstaunlich wirkende Zunahme liegt vor allem daran, dass innerhalb einiger Wirkstoffklassen wie Neuroleptika oder nichtsteroidalen Antirheumatika auf Unterschiede einzelner Wirkstoffe untereinander eingegangen wird.

Dies erlaubt außerdem die – gegenüber der ersten Version neue – nach Anwendung differenzierte PIM-Einstufung von Substanzen. So werden Protonenpumpenhemmer (PPI) nicht grundsätzlich als PIM eingestuft, sondern erst bei einer Therapiedauer von mehr als acht Wochen. Ibuprofen wird erst mit einer Tagesdosis von über 1200 mg oder bei einer Therapiedauer von über einer Woche ohne gleichzeitige PPI-Prophylaxe als PIM eingestuft. Eine zusätzliche Unterstützung, die PRISCUS 2.0 für die tägliche Verordnungspraxis gibt, sind Anmerkungen zu spezifischen Arzneimittelrisiken bei Begleiterkrankungen und Organfunktionseinschränkungen.

Sinnvoller Einsatz von PRISCUS 2.0

Im ärztlichen Alltag führt die Multimorbidität der Patienten immer häufiger zu einer großen Zahl grundsätzlich indizierter und leitliniengerechter Verordnungen. Wenn die resultierende Multimedikation auf ein überschaubares und pharmakologisch sinnvolles Maß zurückgeführt werden soll, ist PRISCUS 2.0 eine nützliche Hilfestellung.

Die Einstufung als PIM sollte ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung sein, ob ein Medikament abgesetzt werden soll. Dies darf aber nicht reflexartig erfolgen. Selbstverständlich kann im individuellen Fall die Weiterverordnung eines PIM unverzichtbar für die individuelle patientenrelevante Gesundheit und Lebensqualität sein.

PRISCUS 2.0 in Kürze

  • 177 Wirkstoffe/Wirkstoffklassen, die für Ältere potenziell ungeeignet sind (PIM).
  • Keine generelle Negativ- oder Ausschlussliste. Patientenindividuell kann die Verordnung eines PIM sinnvoll und notwendig sein. Die Einschätzung der klinischen Situation der Patienten und die daraus folgende Auswahl der geeigneten Medikation ist und bleibt eine wichtige Aufgabe der behandelnden Ärzte.
  • In der ausführlichen Fassung sind neben Median, Mittelwert und 95-%-Konfidenzintervall auch mögliche Alternativen, Hinweise zum Monitoring, zu vermeidende Komedikation/Komorbiditäten, Grund für die Einstufung als PIM und Diskussionspunkte angegeben.
  • Im Internet frei verfügbar: www.priscus2-0.de.

Literatur

  1. Farrel B: Deprescribing Guidelines and Algorithms: Developing Deprescribing Guidelines: deprescribing.org/resources/deprescribing-guidelines-algorithms/. Letzter Zugriff: 20. März 2023.
  2. Ludwig WD, Schuler J: Multimedikation: Warum ist eine Reduzierung von Medikamenten häufig so schwierig? Der Arzneimittelbrief 2018; 52: 23.
  3. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA: Potentially inappropriate medications in the elderly: the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 543-551.
  4. Mann NK, Mathes T, Sönnichsen A et al: Potentially inadequate medications in the elderly: PRISCUS 2.0 –first update of the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 3-10.
  5. Todd A, Jansen J, Colvin J, McLachlan AJ: The deprescribing rainbow: a conceptual framework highlighting the importance of patient context when stopping medication in older people. BMC Geriatr 2018; 18: 295.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.