Alpträume und optische Halluzinationen unter Atorvastatin

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 4/2022

Fallberichte

Der AkdÄ wurde der Fall einer 63-jährigen Patientin berichtet, die zur Sekundärprophylaxe eines Schlaganfalls bei Hyperlipidämie Atorvastatin 20 mg am Abend einnahm. Nach dreimaliger gut vertragener Einnahme entwickelte die Patientin am vierten Tag kurz nach der Einnahme optische Halluzinationen („davon laufende Spinnen“) und optische Wahrnehmungsverzerrungen („Parkettmuster wankt“), die im Wachzustand auftraten. Die Orientierung war ungestört. Zudem wurde berichtet, dass die Patientin als weitere Symptomatik auch neu aufgetretene Alpträume entwickelt hatte. Nach einigen Stunden verschwanden die Beschwerden, traten aber abermalig nach erneuter Atorvastatin-Einnahme auf. Zeitgleich wurde eine Medikation mit Lercanidipin 10 mg/d sowie ASS 100 mg/d begonnen. Drei Wochen vor der Symptomatik hatte die Patientin aufgrund einer Coxalgie mit der Einnahme von Etoricoxib 90 mg/d begonnen. Zudem nahm sie seit Jahren ein Kombinationspräparat aus Ramipril und HCT (5/25 mg/d) ein.

Arzneimittel

Atorvastatin ist ein selektiver, kompetitiver Hemmstoff der HMG-CoA-Reduktase, die geschwindigkeitsbestimmend die Synthese von Cholesterin katalysiert. Atorvastatin senkt die Konzentrationen von Plasmacholesterin und Lipoproteinen im Serum durch Hemmung der HMG-CoA-Reduktase und demzufolge der Cholesterinbiosynthese in der Leber und erhöht die Anzahl der hepatischen LDL-Rezeptoren auf der Zelloberfläche, wodurch die Aufnahme und der Abbau von LDL beschleunigt werden (1).

Atorvastatin ist zur Behandlung einer Hypercholesterinämie und zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse bei Patienten zugelassen, deren Risiko für ein erstes kardiovaskuläres Ereignis als hoch eingestuft wird, zusätzlich zur Behandlung weiterer Risikofaktoren (1).

Neben allgemein häufigen, eher unspezifischen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und gastrointestinalen Beschwerden werden in der Fachinformation von Atorvastatin als häufige Nebenwirkungen benannt: Nasopharyngitis, pharyngolaryngeale Schmerzen einschließlich Nasenbluten, allergische Reaktionen, Hyperglykämie, Dyspepsie sowie Myalgie und Arthralgie. Aufgrund der Gefahr der Erhöhung von Transaminasen sind regelmäßige Laborkontrollen angeraten (1).

An (potenziell) zentralnervösen und psychiatrischen Nebenwirkungen werden in der Fachinformation benannt (1): Albträume, Schlaflosigkeit, Benommenheit, Störungen des Geschmacksempfindens, verschwommenes Sehen, Sehstörungen und Amnesie.

Krankheitsbild

Optische Halluzinationen sind eine Symptomatik des ZNS. Die Art der optischen Halluzinationen („davon laufende Spinnen“) hat die gleiche Charakteristik, wie sie typischerweise auch Halluzinationen im Rahmen eines Deliriums haben (klein, viel, beweglich). Das alleinige Vorliegen optischer Halluzinationen rechtfertigt aber nicht die Diagnose eines Deliriums, das zusätzlich mit Bewusstseinsstörungen und häufig weiteren Symptomen wie kognitiven Beeinträchtigungen (bei der Patientin: keine Orientierungsstörungen), motorischen Auffälligkeiten (Unruhe, Nesteln) und vegetativen Störungen einhergeht.

Bewertung der Kausalität

Die Patientin entwickelte am vierten Tag nach dem Beginn einer abendlichen Einnahme von Atorvastatin für einige Stunden optische Halluzinationen und optische Wahrnehmungsverzerrungen und Albträume. Dies wiederholte sich zweimal an den nächsten Abenden, bis Atorvastatin abgesetzt wurde.

Höchstwahrscheinlich relevant für die geschilderte Symptomatik ist eine mutmaßlich erst wenige Tage zurückliegende akute ZNS-Erkrankung, in Form eines Schlaganfalls. Leider liegen keine weiteren Informationen zu Zeitpunkt, Symptomatik und Lokalisation und Ausmaß des morphologischen Schadens vor; indirekt kann aber geschlossen werden, dass die Krankenhausaufnahme aufgrund eines mutmaßlich frischen Schlaganfalls erfolgte. Eine akute ZNS-Erkrankung ist ein Risikofaktor nicht nur für das Auftreten eines Delirs, sondern auch für andere ZNS-UAW von Medikamenten. Ein Zusammenhang der optischen Wahrnehmungsstörungen der Patientin mit der Atorvastatin-Einnahme ‒ auf dem Boden einer durch den Schlaganfall erhöhten Vulnerabilität ‒ ist sehr wahrscheinlich. Da Statine wie Atorvastatin häufig zur Sekundärprophylaxe nach Schlaganfällen eingesetzt werden, ist die geschilderte Konstellation häufig und relevant.

Die Nebenwirkung bei dieser Patientin ist als mild zu bewerten. Sie klang jeweils nach einigen Stunden vollständig ab, es kam zu keinen Komplikationen und keinen bleibenden Schäden. Nach Umsetzen auf ein anderes Statin konnte die Behandlung der Hyperlipidämie problemlos fortgesetzt werden. Dennoch ist die gemeldete Nebenwirkung als relevant zu bezeichnen. Sie weist auf eine Störung der ZNS-Funktion hin. Halluzinationen können große Ängste auslösen und Patienten stark verunsichern, und es kann sogar zu Fehlhandlungen aufgrund von Halluzinationen kommen, zum Beispiel zu einer panischen Flucht unter unzureichender Beachtung von Sicherheitsaspekten. Auch beim Auftreten während der Steuerung von Fahrzeugen oder Maschinen können Halluzinationen ein Sicherheitsrisiko bergen.

Das Risiko von Halluzinationen und anderen Wahrnehmungsstörungen wird in der Fachinformation von Atorvastatin sowie unter den restlichen Statinen bislang nicht benannt. Bezüglich der möglichen Nebenwirkungen im Bereich der Sinneswahrnehmungen werden dort nur benannt „Störungen des Geschmacksempfindens, verschwommenes Sehen, Sehstörungen“, worunter nicht gustatorische oder optische Halluzinationen zu fassen wären. Die von der Patientin mutmaßlich ebenfalls als Nebenwirkung erlebten Albträume hingegen werden in der Fachinformation benannt und sind bezüglich ihres Schweregrades/Gefahrenpotenzials als geringer einzuschätzen, wenngleich sie subjektiv sehr belastend sein können.

In der EudraVigilance-Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen (https://www.adrreports.eu/de/index.html) finden sich zum 1. Dezember 2022 Meldungen zu optischen Halluzinationen bzw. Albträumen unter den Statinen wieder (Tabelle 1).

Grundsätzlich lassen diese Zahlen keine Aussage über die tatsächliche Inzidenz der jeweiligen Nebenwirkung zu. Diese Meldungen sind keine bestätigten Nebenwirkungen und kein Beweis dafür, dass eine Reaktion tatsächlich aufgrund des Arzneimittels aufgetreten ist. Es muss zudem berücksichtigt werden, dass es sich nicht um einzelne Patientenfälle handelt, sondern um gemeldete mögliche Nebenwirkungen. So können für einen Patienten mehrere Reaktionen gemeldet worden sein. Auch ist es ohne eine vertiefende Analyse unklar, ob in allen gemeldeten Fällen ein zumindest theoretisch möglicher (zeitlicher) Zusammenhang mit einem Statin bestand und inwiefern andere, gleichzeitig eingenommene Arzneimittel als Ursache infrage kommen könnten.

Die in der Tabelle 1 zusammengefassten Verdachtsmeldungen zeigen, dass sich hierunter in relevantem Umfang Halluzinationen und andere psychotische Symptome/Störungen befinden: So werden z. B. unter Atorvastatin insgesamt 169 Halluzinationen berichtet, darunter 105 ohne Angabe der Sinnesmodalität und 38 optische. 51 Delirien werden berichtet, 67 Meldungen betreffen Wahnsymptome und Wahnerkrankungen. 36 Meldungen betreffen unspezifische psychotische Störungen oder Symptome, unter denen sich potenziell auch Fälle mit Halluzinationen verbergen können.

Noch sehr viel häufiger, aber in der Fachinformation benannt, werden Verdachtsfälle verschiedenster Formen von Schlafstörungen berichtet. Unter Atorvastatin wurden z. B. 333 Fälle von Alpträumen übermittelt.

Der Kausalitätszusammenhang zwischen der Atorvastatin-Einnahme und den Halluzinationen der Patientin muss als wahrscheinlich bewertet werden. Zwar trat die Symptomatik erst am vierten Tag nach Medikationsbeginn auf, war dann aber dreimal reproduzierbar durch die Wiederholung der Einnahme und sistierte vollständig nach dem Absetzen der Medikation. Die mutmaßliche akute ZNS-Erkrankung der Patientin (vermutlich frischer Schlaganfall) muss als begünstigender Faktor bezeichnet werden.

Die anderen in zeitlicher Nähe zur Symptomatik neu begonnenen Arzneimittel sind wahrscheinlich ohne kausalen Zusammenhang zu den berichteten Nebenwirkungen. Zeitgleich mit Atorvastatin wurden Lercanidipin und ASS begonnen. Zu kaum einem Medikament weltweit liegt so viel Erfahrung vor, wie zu ASS. Optische Halluzinationen zählen nicht zu den typischen, bekannten Nebenwirkungen von ASS, auch nicht von Lercanidipin. Drei Wochen vor dem Auftreten der Symptomatik begann die Patientin ferner mit Etoricoxib. Der vergleichsweise lange zeitliche Abstand bis zum Auftreten der Nebenwirkungen sprechen ebenfalls gegen eine Relevanz des Coxibs, wenngleich Halluzinationen in der Fachinformation als gelegentliche Nebenwirkungen aufgeführt werden (2). Da die Symptomatik der Patientin nach Absetzen von Atorvastatin bei aber fortgesetzter Einnahme von ASS, Lercanidipin und Etoricoxib sistierte, ist ein Zusammenhang mit den drei letztgenannten Medikamenten unwahrscheinlich.

Fazit für die Praxis

Halluzinationen kommen unter Atorvastatin als Nebenwirkung vor und sollten daher in die Fachinformation aufgenommen werden. Patientenberichte von solchen Nebenwirkungen sollten als Verdachtsfälle der AkdÄ mitgeteilt werden.

Literatur

  1. Viatris Pharma GmbH: Fachinformation „Sortis® Filmtabletten“. Stand: Mai 2022
  2. Organon Healthcare GmbH: Fachinformation „Arcoxia®“. Stand: Mai 2021.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.