Medikamentöse Prophylaxe der Migräne mit und ohne Aura bei Erwachsenen: Status quo

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2022

Migräne

Für Kopfschmerzen besteht eine Lebenszeitprävalenz von etwa 66 %, für Migräne von 12 bis 16 % (1). Frauen sind zwei bis dreimal so häufig von Migräne betroffen wie Männer. Migräne ist einerseits eine häufige Ursache für vorübergehende körperliche Einschränkungen und andererseits aber auch mit anderen Erkrankungen wie beispielsweise Depression, Angsterkrankungen und vaskulären Erkrankungen assoziiert (1). Laut der „Global Burden of Disease Study“ ist die Migräne noch vor dem Schlaganfall die führende neurologische Ursache für verlorene Lebensjahre (gemessen als DALYs = Disability-Adjusted-Life-Years) und die häufigste Ursache für eine Behinderung bei unter 50-Jährigen (2;3). Die deutsche S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ leitet die Indikation zu einer medikamentösen Prophylaxe der Migräne aus dem besonderen Leidensdruck, der Einschränkung der Lebensqualität und dem Risiko eines Medikamentenübergebrauchs ab (4).

Medikamentöse Prophylaxe

Die Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe ist individuell zu stellen. Dabei sollten realistische Therapieziele und potenzielle Nebenwirkungen der Arzneimittel gegeneinander abgewogen werden. Anhaltspunkte, die für eine medikamentöse Prophylaxe sprechen, sind ein hoher Leidensdruck, mindestens drei Attacken mit deutlicher Beeinträchtigung der Lebensqualität pro Monat oder eine Einnahme von Analgetika an zehn oder mehr Tagen pro Monat. Es wird geschätzt, dass bei mindestens jedem vierten Patienten mit Migräne eine Indikation für eine medikamentöse Migräneprophylaxe vorliegt (5). Die medikamentöse Prophylaxe der Migräne ist jedoch häufig unbefriedigend: Bis zur Einführung monoklonaler Antikörper standen lediglich Wirkstoffe zur Verfügung, die ursprünglich für andere Indikationen entwickelt wurden und deren Nebenwirkungen und begrenzte Wirksamkeit durch eine Adhärenzrate von unter 30 % nach sechs Monaten illustriert wird (6).

In der deutschen S1-Leitlinie wird empfohlen, zunächst eine der für diese Indikation zugelassenen oral einzunehmenden Substanzen zu verwenden: Metoprolol, Propranolol, Flunarizin, Amitriptylin und Topiramat (4). Auch die Wirksamkeit von Valproinsäure ist in mehreren kontrollierten Studien nachgewiesen. Valproinsäure ist off-label jedoch nur verordnungsfähig, wenn eine Behandlung mit allen anderen zugelassenen Arzneimitteln nicht wirksam war oder kontraindiziert ist und sollte bei Frauen im gebärfähigen Alter wegen Teratogenität nicht eingesetzt werden. Kein Medikament hat einen nachgewiesenen Vorteil hinsichtlich seiner Wirksamkeit (7;8). Die Auswahl des Arzneimittels richtet sich vielmehr nach den potenziellen Nebenwirkungen: Die Wahl sollte auf ein Präparat fallen, dessen typisches Nebenwirkungsprofil für den individuellen Patienten akzeptabel ist oder dessen Wirksamkeit hinsichtlich begleitender Erkrankungen therapeutisch genutzt werden kann. Die Wirkung sollte mittels eines Kopfschmerzkalenders zwei bis drei Monate nach Erreichen der tolerablen Zieldosis evaluiert werden. Bei ungenügender Wirksamkeit – das heißt in der Regel, wenn die Häufigkeit der Migränetage nicht um mindestens 50 % sinkt – oder bei Unverträglichkeit sollte auf einen anderen Wirkstoff gewechselt werden.

Monoklonale Antikörper

Eine Verordnung eines monoklonalen Antikörpers zur Migräneprophylaxe ist gemäß dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) möglich, wenn mindestens fünf Substanzen aus den vier verfügbaren, zugelassenen pharmakologischen Gruppen (Betablocker, Antiepileptika, Kalziumantagonisten, Antidepressiva) nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen oder Warnhinweise bestehen. Bei Patienten mit chronischer Migräne wird empfohlen, dass diese zusätzlich auf eine Therapie mit Onabotulinumtoxin A nicht angesprochen haben (9-11).

Bisher liegt in der EU für drei monoklonale Antikörper eine Zulassung zur Prophylaxe von Migräne bei Erwachsenen mit mindestens vier Migränetagen pro Monat vor: Erenumab (Aimovig®), Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®). Die Applikation erfolgt subkutan vierwöchentlich bei Erenumab und Galcanezumab. Bei Fremanezumab ist alternativ zu einer monatlichen Applikation auch eine vierteljährliche Gabe möglich; die Studienlage spricht für eine vergleichbare Wirksamkeit beider Applikationsintervalle von Fremanezumab. Wenn nach drei Monaten kein befriedigender Therapieeffekt vorliegt, sollte die Behandlung beendet werden. Die Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper ist im indirekten Vergleich nicht höher als jene der bisher verfügbaren Wirkstoffe zur Migräneprophylaxe (12-14). Hinsichtlich der Verträglichkeit und Adhärenz scheinen die monoklonalen Antikörper gegenüber bisher verfügbaren Wirkstoffen jedoch vorteilhaft zu sein. Daten, die einen direkten Vergleich der monoklonalen Antikörper untereinander ermöglichen, liegen nicht vor. Ein indirekter Vergleich der Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper ist erheblich erschwert, da die Reduktion der Migränetage um mindestens 50 % als Endpunkt in den verschiedenen Zulassungsstudien auf verschiedene Arten berechnet wurde (15). Ob bei Versagen des CGRP-Antagonisten Erenumab ein Therapieversuch mit einem CGRP-Rezeptorantagonisten (Galcanezumab oder Fremanezumab) und vice versa sinnvoll ist, ist unklar (16;17).

Bisher liegt lediglich eine Studie vor, die einen monoklonalen Antikörper mit einem oralen zur Migräneprophylaxe zugelassenen Wirkstoff vergleicht: In einer doppelblinden Therapiestudie bei Patienten mit episodischer bzw. chronischer Migräne führte Erenumab zu einer stärkeren Reduktion von Migränetagen und zu einer geringeren Abbruchrate wegen Nebenwirkungen als Topiramat (18). Allerdings wurde in der erneuten Nutzenbewertung von Erenumab das Design der Studie kritisiert, da die Studienmedikation bei Auftreten von Nebenwirkungen nicht reduziert werden konnte, die Zieldosis im Topiramat-Arm vorgegeben war, im Erenumab-Arm dagegen individuell gewählt werden konnte und bei Abbruch der Studientherapie im Topiramat-Arm kein alternativer, zur Migräneprophylaxe zugelassener Wirkstoff eingenommen werden konnte. Die hohe Abbruchrate im Topiramat-Arm führte dazu, dass ein großer Anteil der Patienten, die eine Vergleichstherapie erhielten, über den längsten Zeitraum der Erhaltungsphase unbehandelt war (19). Diese Faktoren führen zu einem Bias, der den Topiramat-Arm der Studie benachteiligt.

Chronische Migräne

Eine Sonderstellung nimmt die medikamentöse Prophylaxe der chronischen Migräne ein, für die neben den drei in der EU zugelassenen monoklonalen Antikörpern lediglich Topiramat und Botulinumtoxin zugelassen sind. Für andere, bei der episodischen Migräne nachweisbar wirksame Migräneprophylaktika ist die Studienlage hinsichtlich der chronischen Migräne unzureichend (4). Dennoch ist eine Verordnung eines monoklonalen Antikörpers zur Prophylaxe bei chronischer Migräne gemäß dem Beschluss des G-BA nur möglich, wenn mindestens fünf Substanzen aus den vier verfügbaren zugelassenen pharmakologischen Gruppen (Betablocker, Antiepileptika, Kalziumantagonisten, Antidepressiva) und zusätzlich eine Therapie mit Onabotulinumtoxin A nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen oder Warnhinweise bestehen (9).

Klinische Praxis

Die Versorgungspraxis in Deutschland wird durch eine große Beobachtungsstudie dargestellt, die 243.471 Patienten mit Migräne einschloss, die zwischen 2008 und 2016 behandelt wurden (20). 22,3 % der Patienten erhielten mindestens ein Rezept für einen für die Migräneprophylaxe zugelassenen Wirkstoff oder Valproinsäure; bei Patienten mit komplizierter Migräne (einschließlich chronischer Migräne) war dies bei 38,0 % der Fall. Mit Abstand am häufigsten wurden Betablocker verordnet (53,8 %), vermutlich jedoch bei den meisten Patienten mit internistischer Indikation und nicht primär als Migräneprophylaxe. Nur wenigen Patienten (4,0 %) wurde mehr als ein zur Migräneprophylaxe zugelassener Wirkstoff oder Valproinsäure verordnet. In einer weiteren epidemiologischen Studie nahmen nur 2,4 % der Teilnehmer in Deutschland mit mindestens fünf Migränetagen pro Monat eine medikamentöse Prophylaxe ein (21).

Fazit

Bei Migräne bestehen ein hoher Leidensdruck sowie Einschränkung der Lebensqualität und Risiko eines Medikamentenübergebrauchs. Die Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe ist individuell zu stellen, dabei sollten realistische Therapieziele und potenzielle Nebenwirkungen der Arzneimittel gegeneinander abgewogen werden. Bei der Verordnung sind zudem die jeweiligen Zulassungen der Arzneimittel zu berücksichtigen. Die monoklonalen Antikörper – Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab – können aufgrund der fehlenden Daten und den daraus resultierten Beschlüssen des G-BA zur Nutzenbewertung nur dann eingesetzt werden, wenn alle anderen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, keine Interessenkonflikte zu haben.

Literatur
  1. Bigal ME, Lipton RB: The epidemiology, burden, and comorbidities of migraine. Neurol Clin 2009; 27: 321-334.
  2. GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group: Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a systematic analysis for the Burden of Disease Study 2015. Lancet Neurol 2017; 16: 877-897.
  3. Steiner TJ, Stovner LJ, Vos T et al.: Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians take now notice? J Headache Pain 2018; 19: 17.
  4. Diener HC, Gaul C, Kropp P et al.: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne: dgn.org/wp-content/uploads/2012/11/030057_LL_Migra%CC%88ne_2018_Erg%C3%A4nzung_2019.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. S1-Leitlinie; Version 1.2, Stand: Januar 2018, Ergänzung: 4. Oktober 2019.
  5. Lipton RB, Bigal ME, Diamond M et al.: Migraine prevalence, disease burden, and the need for preventive therapy. Neurology 2007; 68: 343-349.
  6. Hepp Z, Dodick DW, Varon SF et al.: Adherence to oral migraine-precentive medications among patients with chronic migraine. Cephalalgia 2015; 35: 478-488.
  7. Linde M, Mulleners WM, Chronicle EP, McCrory DC: Valproate (valproic acid or sodium valproate or a combination of the two) for the prophylaxis of episodic migraine in adults (Review). Cochrane Database Syst Rev 2013; Issue 6: CD010611.
  8. Jackson JL, Cogbill E, Santana-Davila R et al.: A comparative effectiveness meta-analysis of drugs for the prevention of migraine headache. PLOS One 2015; 10: e0130733.
  9. Gemeinsamer Bundesausschuss: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V – Erenumab: www.g-ba.de/downloads/40-268-5716/2019-05-02_AM-RL-XII_Erenumab_D-407_TrG.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). Berlin, 2. Mai 2019.
  10. Gemeinsamer Bundesausschuss: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V – Fremanezumab: www.g-ba.de/downloads/40-268-6093/2019-11-07_AM-RL-XII_Fremanezumab_D-460_TrG.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). Berlin, 7. November 2019.
  11. Gemeinsamer Bundesausschuss: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V – Galcanezumab: www.g-ba.de/downloads/40-268-6010/2019-09-19_AM-RL-XII_Galcanezumab_D-445_TrG.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). Berlin, 19. September 2019.
  12. Diener HC: CGRP antibodies for migraine prevention – new kids on the block. Nat Rev Neurol 2019; 15: 129-130.
  13. Yuan H, Spare NM, Silberstein SD: Targeting CGRP for the prevention of migraine and cluster headache: a narrative review. Headache 2019; 59 (Suppl. 2): 20-32.
  14. Overeem LH, Raffaelli B, Mecklenburg J et al.: Indirect comparison of topiramate and monoclonal antibodies against CGRP or its receptor for the prophylaxis of episodic migraine: a systematic review with meta-analysis. CNS Drugs 2021; 35: 805-820.
  15. Tfelt-Hansen P, Diener HC, Steiner TJ: Problematic presentation and use of efficacy measures in current trials of CGRP monoclonal antibodies for episodic migraine prevention: a mini-review. Cephalalgia 2020; 40: 122-126.
  16. Diener HC, May A et al., Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor – Ergänzung der S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne: dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030057_LL_Addendum_Migräne_2019_aktualisiert2.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Stand: 30. August 2019.
  17. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ): Neue Arzneimittel: Monoklonale Antikörper zur Prophylaxe von Migräne – Erenumab (Aimovig®), Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®) – Wechsel bei Nichtansprechen? Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2020; 47: 38-42.
  18. Reuter U, Ehrlich M, Gendolla A et al.: Erenumab versus topiramate for the prevention of migraine – a randomised, double-blind, active-controlled phase 4 trial. Cephalalgia 2022; 42: 108-118.
  19. Gemeinsamer Bundesausschuss: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Anlage XII – Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V Erenumab (Neubewertung aufgrund neuer Wissenschaftlicher Erkenntnisse: www.g-ba.de/downloads/40-268-7950/2021-10-21_AM-RL-XII_Erenumab_D-669_TrG.pdf (letzter Zugriff: 25. Januar 2022). Berlin, 21. Oktober 2021.
  20. Roessler T, Zschocke J, Roering A et al.: Administrative prevelance and incidence, characteristics and prescription patterns of patients with migraine in Germany: a retrospective claims data analysis. J Headache Pain 2020; 21: 85.
  21. Katsarava Z, Mania M, Lampl C et al.: Poor medical care for people with migraine in Europe – evidence from the Eurolight study. J Head Pain 2018; 19: 10.

vorab online

Dieser Artikel wurde am 11. Mai 2022 vorab online veröffentlicht.