„Aus der UAW-Datenbank“: Meningoenzephalitis durch Varizella-zoster-Virus im Zusammenhang mit Fingolimod
Nachdruck aus: Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A 2197-2198
Die Multiple Sklerose (MS) ist gekennzeichnet durch Entzündung, Demyelinisierung und neuro-axonale Degeneration im zentralen Nervensystem (ZNS). Bei regional sehr unterschiedlicher Häufigkeit wird die Zahl der Erkrankten in Deutschland auf über 220.000 geschätzt (1). Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, Frauen sind häufiger betroffen als Männer (1–3). Die meisten Patienten (85–90 %) weisen zu Beginn einen schubförmig-remittierenden Verlauf auf. Unbehandelt geht der Verlauf bei mehr als der Hälfte der Patienten nach vielen Jahren in einen sekundär progredienten Verlauf über. Bei 10–15 % der Betroffenen ist der Verlauf primär progressiv (3). Zur Behandlung der schubförmigen MS werden unter anderem Interferon beta und Glatirameracetat sowie in jüngerer Zeit auch zahlreiche weitere Immuntherapeutika verwendet (3–5). Fingolimod ist seit 2011 zugelassen zur krankheitsmodifizierenden Monotherapie bei hochaktiver schubförmig-remittierend verlaufender MS (6). Somit wird es meist als Sekundärtherapie bzw. Eskalationsbehandlung angewendet. Nur z. B. bei primär hochaktivem Verlauf wird es bereits bei Krankheitsbeginn angewendet (4). Fingolimod ist ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator und entfaltet seine Wirkung durch den aktiven Metaboliten Fingolimod-Phosphat. Als funktioneller Antagonist am S1P-Rezeptor der Lymphozyten blockiert es die Migration von Lymphozyten aus den Lymphknoten. Dies führt zu einer Abnahme zirkulierender Lymphozyten. Das Eindringen autoreaktiver Lymphozyten in das zentrale Nervensystem wird reduziert und somit entzündliche Reaktionen im ZNS und die Zerstörung von Nervengewebe vermindert (5–9).
Der AkdÄ wurde der Fall einer 45-jährigen Patientin berichtet, die seit über 20 Jahren an einer schubförmigen Multiplen Sklerose erkrankt war. Sie war viele Jahre lang mit Interferon beta-1b behandelt worden, seit fünf Jahren wurde sie mit Fingolimod behandelt. Vor Therapiebeginn mit Fingolimod war eine Varizella-Zoster-Virus-Serologie erfolgt, welche eine in der Kindheit durchgemachte Windpockenerkrankung bestätigte (VZV IgM negativ; IgG 1950 MU/l). Der letzte MS-Schub war zwei Jahre vor dem aktuellen Ereignis aufgetreten.
Eine Woche vor der aktuellen Aufnahme verschlechterte sich ihr Allgemeinzustand mit Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Ferner bestand eine Sensibilitätsstörung des rechten Beines. Unter dem Verdacht eines MS-Schubs erfolgte zunächst eine hochdosierte Stoß-Therapie mit intravenösen Kortikosteroiden, welche keine Besserung brachte. Seit dem Vortag der Aufnahme bestanden zudem Verlangsamung, Desorientiertheit und leichte Dysarthrie. Eine kranielle MRT zeigte neben den bekannten MS-Herden meningoenzephalitische Veränderungen. In der Lumbalpunktion war die Zellzahl mit 73/μl erhöht (lympho-monozytäres Zellbild) und es bestand eine Schrankenstörung. In der PCR wurde Varizella-zoster-Virus-DNA (4 Mio. VZV-Kopien/ml Liquor) nachgewiesen. Weitere Erreger (EBV, CMV, HSV, HHV 6, Enteroviren, JC-Virus, Kryptokokken, Mykobakterien) waren nicht nachweisbar. Es wurde die Diagnose einer VZV-Meningoenzephalitis gestellt. Trotz Behandlung mit Aciclovir bis 15 mg/kg KG und Gabe intravenöser Immunglobuline entwickelte sie im Verlauf eine Hemiparese und Dysarthrie. Dies wurde durch eine Einblutung, am ehesten auf dem Boden eines ischämischen Schlaganfalles bei vaskulitischem Verlauf, gewertet. Daraufhin wurde zusätzlich Prednisolon oral verabreicht. Bei Entlassung in eine Rehabilitationseinrichtung hatte sich die Hemiparese leicht gebessert. Die enzephalitischen Veränderungen im MRT sowie die Viruskopienzahl im Liquor waren rückläufig.
VZV zählt zur Gruppe der alpha-Herpes-Viren und ist weltweit verbreitet. Die Primärinfektion erfolgt in der Regel durch Tröpfcheninfektion in der Kindheit oder Jugend. Nach Replikation im oberen Respirationstrakt gelangt das Virus durch infizierte T-Lymphozyten in die Haut, wo es den typischen vesikulären Hautausschlag verursacht („Windpocken“). VZV kann lebenslang in sensorischen Ganglien von Hirnnerven, in Hinterwurzeln des Rückenmarks sowie im enterischen Nervensystem persistieren. Die Latenz wird vor allem durch VZV-spezifische T-Lymphozyten kontrolliert, welche während der Primärinfektion induziert werden. Ab dem mittleren Lebensalter nimmt die T-Zell-vermittelte Immunität ab und das Risiko einer VZV-Reaktivierung steigt. Diese äußert sich typischerweise als Herpes zoster („Gürtelrose“). Andere Manifestationen wie Enzephalitis sind möglich (10–12).
Indem die Migration von Lymphozyten aus den Lymphknoten durch Fingolimod gehemmt wird, kommt es zu einer Abnahme der zirkulierenden Lymphozyten, welche ihre Funktion behalten. Die relative Lymphopenie scheint jedoch ein Risiko für Herpesvirus-Infektionen zu sein (6;7;13;14). Gemäß Fachinformation soll bei Behandlung mit Fingolimod regelmäßig ein Differentialblutbild bestimmt werden. Wenn die Lymphozytenzahl unter 200/µl absinkt, soll Fingolimod pausiert werden (6).
Herpesvirus-Infektionen diverser Schweregrade sind mehrfach in den Zulassungsstudien zu Fingolimod beschrieben worden (7;9). In der TRANSFORMS-Studie traten zwei Fälle von tödlichen Herpesvirus-Infektionen auf: Ein Fall einer disseminierten primären VZV-Infektion und ein Fall von Herpes-simplex-Enzephalitis (7). Kasuistisch wird über Fälle von VZV-Enzephalitis berichtet (15;16). Auf dem Boden einer VZV-assoziierten Vaskulitis wurden auch Hirninfarkte beschrieben (14–16). Teilweise hatten die Patienten kurz zuvor hochdosierte Kortikosteroide erhalten (7;14;16). In einer gepoolten Analyse von Daten aus kontrollierten Phase-II- und Phase-III-Studien sowie der unkontrollierten Extensionsphase von Studien wurde eine höhere VZV-Inzidenz unter Fingolimod im Vergleich zu Plazebo berechnet (11 vs. 6 pro 1000 Patientenjahre). Auch gegenüber anderen Disease Modifying Treatments (DMT) wurden mehr Fälle von Herpes zoster berichtet (10).
Vor Beginn einer Behandlung mit Fingolimod sollte bei Patienten ohne ärztlich bestätigte Windpockeninfektion oder ohne vollständige Impfung ein Antikörpertest auf VZV durchgeführt werden. Bei negativem Testergebnis sollte vor Therapiebeginn eine VZV-Impfung erfolgen (6;17). Seit Mitte 2018 ist in Deutschland ein Totimpfstoff zur Prävention von Herpes zoster und postherpetischer Neuralgie verfügbar (Shingrix®) (18). Gemäß den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) wird dieser als Standardimpfung für Personen ab 60 Jahren empfohlen. Bei Menschen ab 50 Jahren wird die Impfung empfohlen, wenn ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Herpes zoster oder postherpetischer Neuralgie besteht, z. B. bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen oder Immunsuppression (19). Bislang nicht geklärt ist, ob unter 50-jährige Patienten mit MS und immunsuppressiver Therapie mit dem Totimpfstoff gegen Herpes zoster geimpft werden sollten (17). Allerdings scheint eine Herpes-zoster-Impfung nicht in allen Fällen vor VZV-Komplikationen zu schützen: Eine 66-jährige Patientin hat trotz Impfung mit dem attenuierten Lebendimpfstoff Zostavax® eine VZV-Enzephalitis sowie im Verlauf Hirninfarkte bei Vaskulitis entwickelt (16). Die AkdÄ wies kürzlich auf Fallberichte von Herpes zoster bzw. zosterartigen Hautveränderungen im Zusammenhang mit der Shingrix®-Impfung hin. Es ist bislang nicht geklärt, ob es sich hierbei um eine Nebenwirkung der Impfung handelt und ob ggf. bestimmte Vorerkrankungen das Risiko für derartige Reaktionen erhöhen (12).
Zusammenfassung und Fazit
Der dargestellte Fall und Berichte in der Literatur zeigen, dass die Behandlung mit Fingolimod ein Risiko für VZV-Infektionen sein kann. Zur Vermeidung einer primären Infektion muss vor Therapiebeginn sichergestellt sein, dass eine ausreichende Immunität gegen VZV vorliegt. Da hochdosierte Kortikosteroide als Risikofaktor für eine VZV-Reaktivierung gelten, sollte die Anwendung zur Schubbehandlung bei gleichzeitiger Fingolimodbehandlung möglichst auf drei bis fünf Tage begrenzt sein. Zwar ist eine generelle antivirale Prophylaxe nicht erforderlich. Bei Patienten, die länger oder wiederholt hochdosierte Kortikosteroide erhalten, kann eine solche jedoch erwogen werden (10).
Behandler sollten sich des Risikos schwerer VZV-Infektionen im Zusammenhang mit Fingolimod bewusst sein. Bei entsprechenden Hautveränderungen sollte unverzüglich eine antivirale Behandlung begonnen werden (14;15). Schwere VZV-Infektionen können jedoch auch ohne begleitende Hauterscheinungen auftreten (14;16). Da eine Kortisonstoßbehandlung den Verlauf einer etwaigen VZV-Infektion verschlimmern könnte, sollten bei neu auftretenden oder sich verschlechternden neurologischen Symptomen bei Patienten, die mit Fingolimod behandelt werden, neben einem MS-Schub auch VZV-assoziierte Komplikationen differentialdiagnostisch erwogen werden und nach entsprechender Diagnostik ggf. eine antivirale Behandlung eingeleitet werden.
Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.
Literatur
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