Revolte auf Luna – Transparency and Independence, NOW

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2020

Autor

Die Sagrada Família in Barcelona gehört zu den ewigen Baustellen. Baubeginn war 1882, seitdem sind mehrere Termine zur Fertigstellung verstrichen. Im Jahr 2026, zum 100. Todestag des ursprünglichen Architekten Antoni Gaudí, sollte sie spätestens und endlich vollendet sein.

Der Umgang mit Interessenkonflikten in der Medizin ist ebenfalls eine permanente und allgegenwärtige Baustelle (1). Immerhin hat sich schon einiges Erfreuliches getan. Begonnen hatten die Arbeiten um die Jahrtausendwende als Grassroots-Bewegung „No Free Lunch“ in den USA (2-4). Der Satz There Ain't No Such Thing As A Free Lunch („TANSTAAFL“) wurde zum ersten Mal in dem Science-Fiction-Roman The Moon Is a Harsh Mistress („Revolte auf Luna“) des US-Autors Robert A. Heinlein verwandt. In Deutschland entstand im Jahr 2007 die Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte, mit dem Akronym MEZIS (Mein Essen zahl‘ ich selbst) (5).

Tatsächlich stand zunächst die Ablehnung von durch pharmazeutische Unternehmer bzw. Hersteller von Medizinprodukten finanzierten Fortbildungsveranstaltungen im Vordergrund. Nach wie vor werden mehr als zwei Drittel der ärztlichen Fortbildungen von pharmazeutischen Unternehmern bzw. der Medizinprodukte-Industrie (mit)finanziert (6).

Von der Industrie bezahltes Catering bei ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Arzneimittelmuster und Schreibwaren waren die häufigsten Zuwendungen in Arztpraxen (7). Immer mehr Kolleginnen und Kollegen kommen zu der Erkenntnis, dass eine gut organisierte Arztpraxis sich Schreibwaren durchaus auch selbst aussuchen und bezahlen kann (Meinen Kuli — usw. — zahl‘ ich selbst). Sponsoring von Praxisverwaltungssystemen durch direkte Werbung im System ist ebenfalls noch weit verbreitet.

Ärzte werden bereits im Medizinstudium geprägt und erfahren dort frühe Kontakte mit der Pharmaindustrie (8). In den USA entstand daraus die „AMSA Pharmfree Scorecard“, die anzeigt, wie die einzelnen Medizinischen Fakultäten in diesem Ranking stehen (9). In Deutschland sieht die Lage noch schlechter aus: Bei einer Befragung von Lieb und Koch 2014 zeigte sich, dass nur 2 von 30 medizinischen Fakultäten Richtlinien bezüglich Einflüssen durch die pharmazeutische Industrie implementiert hatten und es nur an 8 von 30 Fakultäten Lehrveranstaltungen zu dem Thema gab. Erschreckend war auch, dass die Mehrzahl der teilnehmenden Fakultäten kein Interesse daran hatte, dies zu ändern (10).

Sophie Gepp und Zoe Friedmann haben für die AG Interessenkonflikte der Bundesvertretung der Medizinstudierenden einen sehr wichtigen Artikel über die Lage in Deutschland zu diesem Thema in AVP 1–2/2020 (11) geschrieben.

Kostenloses Essen und Schreibutensilien werden für die Teilnehmer bzw. Abnehmer von der Mehrzahl der Beschenkten nicht als Beeinflussung wahrgenommen. „Ein Kugelschreiber beeinflusst doch nicht meine Präparateauswahl auf dem Rezept." Weitgehend unbemerkt wurde bislang die Vergütung der Referenten bei Fortbildungsveranstaltungen („Meinungsbildner“) geregelt.

Mögliche Wege zur Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen in der Medizin wurden sowohl für Deutschland (12) als auch international immer wieder beschrieben (13). Nur für unabhängige, nicht pharmagesponserte Fortbildungen sollten Fortbildungspunkte vergeben werden können. Tatsächlich wurde in Deutschland auch schon viel erreicht. Immer mehr Kollegen entscheiden sich dafür, keine Pharmareferenten mehr zu empfangen. Als vorbildliche Initiativen gelten Neurology First, Leitlinien-Watch, das Aktionsbündnis Fortbildung 2020 für unabhängige ärztliche Fortbildung (14) und MEZIS CME-Watch (15).

Es tut sich also (zögernd) etwas. Wir alle sind aufgerufen, uns aktiv gegen gesellschaftsschädliches Verhalten im Gesundheitswesen einzusetzen. Es geht dabei um Selbstkontrolle der Ärzteschaft. Wir sollten uns nicht bieten lassen, dass die pharmazeutische Industrie unsere Fortbildungen merklich oder auch unmerkbar beeinflusst.

Positive Beispiele für unabhängige Fortbildung sind die Tage der Allgemeinmedizin der DEGAM (16) sowie die Fortbildungsveranstaltungen der AkdÄ. Neben der Mitgliedschaft in Fachgesellschaften sollte auch in unabhängige Zeitschriften investiert werden, z. B. arznei-telegramm, Arzneimittelbrief, BUKO Pharma-Kampagne und AVP.

In dieser AVP-Ausgabe widmen sich drei Artikel von Schott et al. der „Baustelle“ Interessenkonflikte. Im ersten Artikel geht es um Manipulation bei medizinischen Apps/medizinischer Software (17). Im zweiten Artikel stellen die Autoren die Hauptaufgaben der AkdÄ sowie des im Jahr 2014 auf Beschluss der Bundesärztekammer eingerichteten Fachausschusses für Transparenz und Unabhängigkeit vor, um Wege zur Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen in der Medizin aufzuzeigen (18). Dass der Erkenntnisgewinn von Anwendungsbeobachtungen gering ist, sie aber das Verschreibungsverhalten beeinflussen und deswegen die AkdÄ davon abrät, können Sie im Nachdruck aus dem Deutschen Ärzteblatt nachlesen (19).

Marshall et al. berichten in einer aktuellen Studie in JAMA von den Ergebnissen des Open-Payments-Transparenzprogramms in den USA und verdeutlichen, dass die „Baustelle“ Interessenkonflikte keinesfalls aus den Augen gelassen werden darf. Tatsächlich werden immer noch vergleichbare Summen investiert (9,3 Milliarden im Zeitraum 2013–2018) und diese nur fokussierter verteilt, vor allem an sogenannte Meinungsbildner (key opinion leaders) (20).

The time for small ideas is over. We need big, structural change (Elizabeth Warren, USA).

Wir sind auf dem richtigen Weg und sollten ihn weitergehen. Wäre die strengere Berücksichtigung von Interessenkonflikten ein Klimaziel, würden Physicians for Future freitäglich fordern: We want Action! Transparency and Independence, Now!

 

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Committee on Conflict of Interest in Medical Research Education and Practice, Institute of Medicine: Lo B, Field MJ (Hrsg.): Conflict of Interest in Medical Research, Education, and Practice. 1. Aufl.; Washington D.C.: National Academies Press, 2009.
  2. O’Reilly KB: Buy your own lunch: no chance of reciprocity: amednews.com/article/20060116/profession/301169965/4/ (letzter Zugriff: 12. November 2020). American Medical News vom 16. Januar 2006.
  3. www.no-free-lunch.org. Letzter Zugriff: 12. November 2020.
  4. mezis.de/das-no-free-lunch-netzwerk/. Letzter Zugriff: 12. November 2020.
  5. Hempel U: Unbestechliche Ärztinnen und Ärzte: „Mein Essen zahl’ ich selbst“. Dtsch Ärztebl 2009; 106: A 708-709.
  6. Lieb K, Klemperer D, Ludwig W-D (Hrsg.): Interessenkonflikte in der Medizin: Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2011.
  7. Lieb K, Brandtönies S: Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern. Dtsch Ärztebl Int 2010; 107: 392-398.
  8. Lieb K, Koch C: Einstellungen und Kontakte von Medizinstudierenden zur pharmazeutischen Industrie. Dtsch Ärztebl Int 2013; 110: 584-590.
  9. www.amsa.org/scorecard/. Letzter Zugriff 12. November 2020.
  10. Lieb K, Koch C: Conflicts of interest in medical school: missing policies and high need for student information at most German universities. GMS Z Med Ausbild 2014; 31: Doc10.
  11. Gepp S, Friedmann Z: Wir studieren Medizin – und Pharma studiert mit? Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2020; 47: 89-92.
  12. Lieb K, Klemperer D, Kölbel R, Ludwig W-D (Hrsg.): Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2018.
  13. Moynihan R, Bero L, Hill S et al.: Pathways to indepence: towards producing and using trustworthy evidence. BMJ 2019; 67: l6576.
  14. cme-sponsorfrei.de. Letzter Zugriff: 9. November 2020.
  15. mezis.de/cmewatch/. Letzter Zugriff: 9. November 2020.
  16. www.degam.de/informationen.html. Letzter Zugriff: 9. November 2020.
  17. Schott G, Aly F, Lieb K: Manipulation medizinischer Software: US-amerikanisches Unternehmen bekennt sich schuldig. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2020; 47: 203-204.
  18. Schott G, Lieb K, Ludwig WD: Wege zur Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen in der Medizin – der Beitrag der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2020; 47: 205-206.
  19. Schott G, Ludwig WD, Lieb K: Anwendungsbeobachtungen: Erkenntnisgewinn ist gering. Nachdruck aus: Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A 1380-1381. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2020; 47: 207-209.
  20. Marshall DC, Tarras ES, Rosenzweig K, Korenstein D, Chimonas S. Trends in Industry Payments to Physicians in the United States From 2014 to 2018. JAMA. 2020; 324: 1785-1788.