Manipulation medizinischer Software: US-amerikanisches Unternehmen bekennt sich schuldig
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat im Jahr 2019 vor dem Einfluss kommerzieller Interessen auf medizinische Smartphone-Applikationen (Apps) gewarnt (1). Verschiedene Analysen haben gezeigt, dass bei der Entwicklung von medizinischen Apps nicht immer der gesundheitliche Nutzen der Anwender im Vordergrund steht, sondern auch das kommerzielle Interesse der Hersteller und Anbieter oder ihr Interesse an den Daten der Nutzer. Nun wurde in den USA erstmals ein Gerichtsverfahren gegen ein Unternehmen geführt, das medizinische Software entwickelt (2;3).
Das Unternehmen Practice Fusion mit Sitz in San Francisco entwickelt Software für elektronische Patientenakten, die kostenlos zugänglich ist. Es hat im Rahmen des Gerichtsverfahrens zugegeben, zusammen mit einem Hersteller von opioidhaltigen Schmerzmitteln eine Entscheidungshilfe entwickelt zu haben, um bei Ärzten mehr Verordnungen von Opioiden mit verlängerter Wirkstofffreisetzung zu induzieren. Dafür erhielt Practice Fusion eine Schmiergeldzahlung von fast 1 Mio. US-Dollar, die von der Marketingabteilung des pharmazeutischen Unternehmers (pU) gezahlt wurde. Mitarbeiter der Marketingabteilung des pU, der im Gerichtsverfahren nicht namentlich genannt wird, waren auch an der Entwicklung der Entscheidungshilfe beteiligt.
Die Software funktionierte folgendermaßen: Wenn ein Arzt die elektronische Akte eines Patienten aufrief, erschien ein Pop-up-Fenster mit einer Frage zum Schmerzniveau des Patienten. Ein Dropdown-Menü enthielt dann eine Liste von Behandlungsoptionen, die von medizinischen Standards abwichen: So wurden Opioide mit verlängerter Wirkstofffreisetzung bereits für Patienten mit nicht schweren Schmerzen vorgeschlagen, die auch durch nicht opioidhaltige Arzneimittel oder durch Opioide mit schneller Wirkstofffreisetzung angemessen hätten kontrolliert werden können. Die Entscheidungshilfe führte nachweislich zu einer häufigeren Verordnung von Opioiden mit verlängerter Wirkstofffreisetzung (2). Sie wurde von 2016 bis zum Frühjahr 2019 etwa 230 Mio. Mal verwendet. Um die straf- und zivilrechtlichen Vorwürfe beizulegen, erklärte sich der Software-Hersteller im Januar 2020 zur Zahlung von 145 Mio. US-Dollar bereit.
Der oben dargestellte Fall betrifft ein lokales Patientenaktensystem, welches in einzelnen Einrichtungen von Ärzten in den USA genutzt wurde. Zumindest für Verordnungssoftware von Arzneimitteln gibt es in Deutschland Regelungen, die direkte oder indirekte Werbung verhindern (4). In Deutschland werden derzeit schrittweise die medizinischen Anwendungen der Telematikinfrastruktur eingeführt (unter anderem der Nofalldatensatz und der eMedikationplan). Die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) nach § 291a SGB V ist für Anfang 2021 geplant (5).
Als Vorteile einer solchen übergreifenden, virtuellen Akte werden häufig genannt, dass sich die dort gespeicherten medizinischen Daten des Patienten schneller als bisher einsehen lassen, da alle mitbehandelnden Ärzte in Echtzeit sehen können, was andere Ärzte an neuen Informationen eingestellt haben. Die große Hoffnung ist, dadurch eine stärker patientenzentrierte und ganzheitliche Versorgung zu befördern.
Die Krankenkassen bieten ihren Versicherten zur Zeit Apps an, mit denen sie ihre elektronische Gesundheitsakte (eGA nach § 68 SGB V) erstellen und verwalten können. Diese überwiegend von Patientenseite befüllten eGA sollen bis 2021 in die ePA nach § 291a SGB V überführt werden. Die einfachste Möglichkeit für einen patientenseitigen Zugriff auf die Daten wird auch hier eine App auf dem Smartphone eines Patienten sein. Inwiefern hier Beeinflussung von Patienten, aber auch Ärzten durch dritte Parteien entstehen kann, ist zurzeit noch nicht absehbar.
Fazit
Ein US-amerikanisches Software-Unternehmen hat im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gestanden, in Kooperation mit einem pharmazeutischen Unternehmer eine Entscheidungshilfe so manipuliert zu haben, dass Ärzte vermehrt opioidhaltige Arzneimittel verschrieben. Die Software wurde auf dem Höhepunkt der Opioid-Krise in den USA eingesetzt – dort sind zehntausende Menschen abhängig von opioidhaltigen Schmerzmitteln (6). Das Beispiel unterstreicht die Forderung der AkdÄ nach Transparenz und Unabhängigkeit von kommerziellen Interessen bei der Entwicklung von medizinischer Software, auch in Hinblick auf die geplante digitale Transformation im deutschen Gesundheitswesen.
Interessenkonflikte
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.
Literatur
- Klemperer D, Schott G, Aly A-F, Lieb K: Medizinische Apps: Vorsicht vor dem Einfluss kommerzieller Interessen der Hersteller. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2019; 46: 92-96.
- Taitsman JK, VanLandingham A, Grimm CA: Commercial influences on electronic health records and adverse effects on clinical decision making. JAMA Intern Med 2020; Epub ahead of print: doi: 10.1001/jamainternmed.2020.1318
- Department of Justice, U.S. Attorney’s Office, District of Vermont: Electronic health records vendor to pay largest criminal fine in vermont history and a total of $145 million to resolve criminal and civil investigations: www.justice.gov/usao-vt/pr/electronic-health-records-vendor-pay-largest-criminal-fine-vermont-history-and-total-145 (letzter Zugriff: 7. Juli 2020). Vermont, 27. Januar 2020.
- Anlage 23 zu § 29 Bundesmantelvertrag – Ärzte: Anforderungskatalog nach § 73 SGB V für Verordnungssoftware: www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/aerztliche_versorgung/bundesmantelvertrag/ anlagen_zum_bundesmantelvertrag/ einzelne_anlagen_zum_bmv/bmv_anlage_23_verordnungssoftware_arzneimitteldatenbanken.jsp. Letzter Zugriff: 7. Juli 2020.
- Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz – PDSG): www.bundesgesundheitsministerium.de fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/P/Gesetzentwurf_Patientendaten-Schutz-Gesetz_-_PDSG.pdf (letzter Zugriff: 7. Juli 2020). Stand: 31. März 2020.
- Wakeman SE: Diagnosis and treatment of opioid use disorder in 2020: JAMA 2020; Epub ahead of print. doi: 10.1001/jama.2020.4104
vorab online
Dieser Artikel wurde am 13. Juli 2020 vorab online veröffentlicht.