Anwendungsbeobachtungen: Erkenntnisgewinn ist gering

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2020

Nachdruck aus: Deutsches Ärzteblatt 2020; 117: A 1380-1381

Autoren
  • Dr. med. Gisela Schott, Berlin, gisela.schott@akdae.de
  • Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Berlin
  • Prof. Dr. med. Klaus Lieb, Mainz

für den Fachausschuss für Transparenz und Unabhängigkeit der AkdÄ

 

Obwohl sie die relevanten Fragen nicht beantworten, die nach der Zulassung eines Arzneimittels offenbleiben, sind Anwendungsbeobachtungen weit verbreitet. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft rät Ärzten deshalb, an keinen Anwendungsbeobachtungen teilzunehmen.

 

Pharmazeutische Unternehmer beschreiben Anwendungsbeobachtungen (AWB) als „unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung“, in denen unter Alltagsbedingungen wichtige Informationen zu einem Arzneimittel gewonnen werden, zum Beispiel zur Langzeitwirksamkeit und zu noch nicht bekannten Nebenwirkungen (1). Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich hinter AWB oftmals Marketingmaßnahmen mit geringem wissenschaftlichen Anspruch verbergen (2;3).

AWB sind eine Untergruppe der nichtinterventionellen Studien im Sinne von § 4 Abs. 23 Satz 3 Arzneimittelgesetz (AMG) (4). Im Unterschied zu interventionellen Studien folgen Diagnose, Behandlung und Überwachung nicht einem vorab festgelegten Prüfplan, sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis. Die Arzneimittel werden in den AWB wie in der Fach- oder Gebrauchsinformation beschrieben angewendet. Es dürfen keine über die Standardtherapie hinausgehenden zusätzlichen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen an den teilnehmenden Patientinnen und Patienten vorgenommen werden, sonst handelt es sich um eine genehmigungspflichtige klinische Prüfung. AWB sind hingegen nicht genehmigungspflichtig.

Patienten aufklären

Wenn ein pharmazeutischer Unternehmer eine AWB durchführt, muss er sie jedoch nach § 67 Abs. 6 AMG unverzüglich der zuständigen Bundesoberbehörde, also dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), oder dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Verband der privaten Krankenversicherung anzeigen. Nach den Empfehlungen des BfArM und des PEI sollten Patienten über die Teilnahme an einer AWB aufgeklärt werden (5). Die Teilnahme sollte nur freiwillig und nach Einverständnis der Patienten möglich sein. Vor der Durchführung einer AWB wird eine Beratung durch eine Ethikkommission empfohlen. AWB sind abzugrenzen von Post-Authorisation Safety Studies (PASS) oder Post-Authorisation Efficacy Studies (PAES), die von den regulatorischen Behörden, vor allem der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), meist im Zusammenhang mit der Neuzulassung einer Substanz als nichtinterventionelle oder interventionelle Studien angeordnet oder freiwillig von pharmazeutischen Unternehmen durchgeführt werden (6).

PASS und PAES

Eine Post-Authorisation Safety Study (PASS) wird nach der Zulassung eines Arzneimittel, durchgeführt, um weitere Informationen zur Sicherheit dieses Arzneimittels zu erhalten oder um die Wirksamkeit von Risikomanagementmaßnahmen zu messen. Auf diese Weise sollen Sicherheitsrisiken identifiziert, charakterisiert oder quantifiziert und das Sicherheitsprofil eines Arzneimittels bestätigt werden.

Eine Post-Authorisation Efficacy Study (PAES) kann freiwillig durchgeführt werden oder von den Zulassungsbehörden auferlegt worden sein. Es handelt sich um Studien der Phase IV zur Ergänzung der Wirksamkeitsdaten, die zum Zeitpunkt der ersten Zulassung verfügbar sind, und zur Erhebung von Langzeitdaten dazu, wie gut das Arzneimittel wirkt, während es bereits weitläufig angewendet wird.

Die vorhandenen Daten weisen darauf hin, dass eine erhebliche Anzahl von AWB in Deutschland durchgeführt wird (7). Angaben der KBV zufolge wurden 2016 insgesamt 98 AWB als abgeschlossen gemeldet, an denen 5231 Ärztinnen und Ärzte und circa 30742 Patientinnen und Patienten teilnahmen. Bei Befragungen von niedergelassenen Ärzten in Deutschland aus dem Jahr 2008 erklärte beinahe die Hälfte der 208 Teilnehmer, jährlich in mindestens eine AWB involviert gewesen zu sein (8).

Schlechte Qualität

Untersuchungen zeigen, dass AWB vor allem zu teuren Arzneimitteln durchgeführt werden, darunter antineoplastische und immunmodulatorische Arzneimittel, aber auch Röntgenkontrastmittel (2;9;10). Einige dieser Arzneimittel sind bereits viele Jahre auf dem Markt (11). Die wissenschaftliche Qualität der meisten AWB ist schlecht, zum Beispiel weil sie Fragestellungen untersuchen, die nicht mit dem Design einer AWB zu beantworten sind. Außerdem werden nur von wenigen AWB die Ergebnisse publiziert. Die Stichprobengröße in AWB ist häufig zu klein, um seltene Nebenwirkungen zu entdecken (12). Teilnehmende Ärzte müssen dem pharmazeutischen Unternehmer häufig Vertraulichkeit über alle Daten zusichern. Dadurch entsteht die Gefahr, dass für den pharmazeutischen Unternehmer ungünstige Ergebnisse verheimlicht werden. Darüber hinaus sind die Vergütungen für AWB oft unangemessen hoch oder werden nicht ausreichend begründet – obwohl dies eindeutig rechtlich gefordert wird. Diese Befunde sprechen dafür, dass AWB von pharmazeutischen Unternehmern meist initiiert werden, um die Verkaufszahlen des „untersuchten“ Arzneimittels zu steigern und den teilnehmenden Ärzten Geld zukommen zu lassen.

Analysen belegen, dass AWB das Verordnungsverhalten von Ärzten verändern können (3). So zeigte eine aktuelle Untersuchung, dass Ärzte, die an einer AWB teilnehmen, das entsprechende Arzneimittel während der Studie und im Jahr danach signifikant häufiger verschreiben (13). Dieses Ergebnis wirft Fragen auf hinsichtlich des rein beobachtenden Charakters von AWB. Auch die Vorgänge um Daclizumab (Zinbryta®, Biogen), das im Jahr 2016 zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Form der Multiplen Sklerose (MS) zugelassen wurde, weisen auf eine Veränderung des Verordnungsverhaltens durch AWB hin. Nur eineinhalb Jahre später wurde das Arzneimittel wegen schwerer und teils tödlich verlaufender Nebenwirkungen vom Markt genommen. Zur Einführung von Daclizumab zur Behandlung der MS versuchte der pharmazeutische Unternehmer trotz eines laufenden Risikobewertungsverfahrens mithilfe einer AWB rasch einen größeren Marktanteil zu erlangen. Die AWB wurde nur in Deutschland durchgeführt, sodass die weit überwiegende Zahl der Patienten, die in Europa Daclizumab erhielten, aus Deutschland kam: 2890 Patienten im Vergleich zu 400 Patienten, die aus dem restlichen Europa stammten. Mindestens sieben Todesfälle wurden mit der Anwendung von Daclizumab in Zusammenhang gebracht, die meisten davon in Deutschland (14).

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) empfiehlt Kolleginnen und Kollegen, bei Studien nach der Zulassung oder Registrierung eines Arzneimittels nur an PASS oder PAES teilzunehmen. Sie rät von der Teilnahme an AWB ab. Gegen die Teilnahme an einer AWB sprechen laut KBV insbesondere folgende Aspekte (15):

  • ungewöhnlich hohe Teilnehmerzahlen,
  • ungewöhnlich hohe Vergütungen,
  • Studien zu längst eingeführten, gut erprobten Arzneimitteln,
  • mehrere unterschiedliche, einander sehr ähnliche AWB zum selben Arzneimittel.
  • Wenn an einer PASS oder PAES teilgenommen wird, sollte sich die Vergütung für die Teilnahme an der Ziffer 85 der Amtlichen Gebührenordnung für Ärzte für die „Vergütung für eine schriftliche gutachterliche Äußerung mit einem das gewöhnliche Maß übersteigenden Aufwand“ orientieren und einen Stundensatz von 75 Euro nicht überschreiten (11).

Keine Teilnahme

AWB können die relevanten Fragen nicht beantworten, die nach der Zulassung eines Arzneimittels offenbleiben, beispielsweise zum Nutzen und Schaden im Vergleich mit verschiedenen anderen Arzneimitteln in sogenannten Head-to-Head-Studien oder zur Arzneimittelsicherheit (16;17). In der Regel beantworten aber AWB auch nicht die Fragen, die sie beantworten könnten, zum Beispiel zur Adhärenz der Patienten, zur Durchführung notwendiger Kontrolluntersuchungen oder zur Anwendung des Arzneimittels außerhalb der Zulassung. Deswegen rät die AkdÄ Kolleginnen und Kollegen von der Teilnahme an AWB ab.

 

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.

Literatur
  1. Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V. (VFA): Anwendungsbeobachtungen nach strengen Regeln: www.vfa.de/de/patienten/artikel-patienten/anwendungs beobachtungen-nach-strengen-regeln.html (last accessed on 22 April 2020).
  2. Dietrich ES: Die meisten deutschen Anwendungsbeobachtungen sind zur Generierung wissenschaftlich valider Erkenntnisse nicht geeignet. PharmacoEconomics – German Research Articles 2009, 7: 3–14.
  3. Gale EA: Post-marketing studies of new insulins: sales or science? BMJ 2012; 344: e3974.
  4. Wem nutzen Anwendungsbeobachtungen? Arzneimittelbrief 2017; 51: 48DB01.
  5. Gemeinsame Empfehlungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und des Paul-Ehrlich-Instituts zu Anwendungsbeobachtungen nach § 67 Absatz 6 Arzneimittelgesetz und zur Anzeige von nichtinterventionellen Unbedenklichkeitsprüfungen nach § 63 f Arzneimittelgesetz, 20. Dezember 2019. www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/klin-pr/nichtInterventPruef/Gemeinsame%20Empfehlungen%20zu%20AWB%20und%20PASS.pdf (last accessed on 22 April 2020).
  6. European Medicines Agency (EMA): Human regulatory: Post-authorisation: www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/post-authorisation (last accessed on 22 April 2020).
  7. Koch C, Appel AS, Lieb K, Lubner SM, Kölbel R: Sind Anwendungsbeobachtungen ein Marketing-Tool? MedR 2018; 36: 225–31.
  8. Lieb K, Brandtönies S: A survey of German physicians in private practice about contacts with pharmaceutical sales representatives. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 392–8.
  9. Gregor-Patera N, Schader M, Wild C: Nicht-Interventionelle Studien (NIS) in Österreich. Systematische Analyse. Rapid Assessment Nr. 7c; Wien: Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment 2016.
  10. Grill M: Radiologen: Extra-Profit mit Kontrastmitteln (Stand: 1. August 2019): daserste.ndr.de/panorama/archiv/2019/Radiologen-Extra-Profit-mit-Kon trastmitteln,kontrastmittel108.html (last accessed on 22 April 2020).
  11. Koch C, Appel AS, Lubner SM: Anwendungsbeobachtungen als Marketing-Tool. In: Kölbel R (eds.): Institutionelle Korruption und Arzneimittelvertrieb. Berlin, Heidelberg: Springer 2019; 181–96.
  12. Spelsberg A, Prugger C, Doshi P et al.: Contribution of industry funded post-marketing studies to drug safety: survey of notifications submitted to regulatory agencies. BMJ 2017; 256: j337.
  13. Koch C, Schleeff J, Techen F, Wollschläger D, Schott G, Kölbel R, Lieb K: Effect of physicians’ participation in non-interventional post-marketing studies on their prescription habits: a retrospective two-armed cohort study. PLoS Med 2020 Jun 26; 17(6): e1003151. doi: 10.1371/journal.pmed.1003151.
  14. Rainer S, Seidemann C: Neue Medikamente – mehr Risiken für Patienten?: www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/ndr/medi kamente-zulassung-100.html (last accessed on 20 February 2020).
  15. Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): Anwendungsbeobachtungen: Meldungen und Abschlüsse von Anwendungsbeobachtungen an die KBV: www.kbv.de/html/themen_23913.php (last accessed on 22 April 2020).
  16. Ludwig WD: Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa. In: Schwabe U, Paffrath, D, Ludwig WD, Klauber J (eds.): Arzneiverordnungs-Report 2018. Berlin: Springer-Verlag 2018; 27–52.
  17. Windeler J: Erkenntnisse nach der Zulassung von Arzneimitteln – Was wir brauchen und was wir bekommen. Vortrag auf der Tagung „Post-Marketing-Studien (Anwendungsbeobachtungen) in Deutschland und Europa – tragen sie zur Arzneimittelsicherheit bei?“; Berlin, 16. November 2017: www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Bilder/Veranstaltungen/2017/Sym posium_zu_Post-Marketing-Studien/TPI_Post-Marketing_Berlin_Windeler.pdf (last accessed on 22 April 2020).

vorab online

Dieser Artikel wurde am 20. Juli 2020 vorab online veröffentlicht.