Viel Leid mit Leitlinien…

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2020

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Wer Pharmakotherapieberatung für Ärzte betreibt, kann diese Anfragen derzeit nicht mehr hören: Aufmerksam die Fachliteratur verfolgende Kolleginnen und Kollegen suchen verunsichert Rat, ob sie schon wieder einmal ihre Strategie zur Lipidsenkung verändern müssen.

Der Grund dafür ist eine Aktualisierung der „Leitlinie“ zu Dyslipidämien, die die European Society of Cardiology (ESC) und die European Atherosclerosis Society (EAS) im Sommer 2019 vorgelegt haben. Danach werden die kardiovaskulären Risikoschwellen, die die Indikation einer medikamentösen Lipidsenkung begründen, ein weiteres Mal abgesenkt. Darüber hinaus werden im Sinne „as low as possible“ nie dagewesene, tiefe LDL-Zielwerte empfohlen. Diese sind nur mit der neuen Substanzklasse der PCSK9-Antikörper zu erreichen. Aber dazu später.

Vorweg die gute Botschaft für die Praxis: Zurücklehnen und die Leitlinie unbeachtet lassen. In einem ausführlichen Artikel hat sich Der Arzneimittelbrief (AMB) mit diesem zweifelhaften Dokument befasst und kommt zu einem vernichtenden Urteil. Wir sind dankbar, dass wir diesen Artikel hier unverändert und in voller Länge übernehmen dürfen. An dieser Stelle nur einige wenige Details daraus.

Die methodisch-handwerklichen Mängel sind zahlreich. Das Leitliniengremium war nicht repräsentativ besetzt, es wurden keine klinisch relevanten Fragen gestellt. Es fehlen die für eine Leitlinie erforderliche systematische Recherche und Bewertung der Literatur. Ob eine strukturierte Konsensfindung stattgefunden hat – das Rückgrat einer guten Leitlinie – ist nicht zu beurteilen, da kein detaillierter Report zur Erstellung präsentiert ist, eine unabdingliche Qualitätsanforderung an jede Leitlinie. Somit erfüllen die methodischen Details nicht die Kriterien einer S2-, geschweige denn einer S3-Leitlinie. Lang ist auch die Liste der inhaltlichen Mängel und fragwürdigen Annahmen, die im AMB-Artikel detailliert und nachvollziehbar angesprochen werden.

Doch zurück zu den PCSK9-Antikörpern. Aus pharmakologischer Sicht eine überaus interessante Substanzgruppe mit einem wirklich innovativen Wirkmechanismus – nur leider bisher ohne Nachweis eines überzeugenden Zusatznutzens, wie mehrfach vom Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) bestätigt. Angesichts der im Vergleich zu Statinen etwa 100-fach höheren Therapiekosten der PCSK9-Antikörper (1) wünscht man sich dringend eine neutrale Bewertung ohne Interessenkonflikte.

Und genau in dieser Disziplin schneidet die neue „Leitlinie“ besonders schlecht ab, wie die der AMB recherchiert hat: Knapp 70 % der Autorinnen und Autoren der Leitlinie haben Interessenkonflikte mit den Herstellern der PCSK9-Antikörper, keinerlei Interessenkonflikte mit Pharmafirmen bestehen bei gerade mal 10 %. Über vier Fünftel der insgesamt 86 Reviewer aus den nationalen kardiologischen Gesellschaften geben Interessenkonflikte an. Eine unabhängige Leitlinienerstellung sieht anders aus, die prominente Präsenz der PCSK9-Antikörper ist vor diesem Hintergrund nicht mehr verwunderlich.

Ein Kommentar in der Zusammenfassung des AMB-Artikels trifft es auf den Punkt: Die Zielvorgabe „as low as possible“ trifft vor allem für das Niveau der Leitlinie zu: Mehr Schaden kann man der Reputation von Leitlinien nicht antun.

 

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Klose G, Schwabe U: Lipidsenkende Mittel. In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2019; 749-760.