Statintherapie bei älteren Patienten in der Primärprävention?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2020

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Zusammenfassung

Es wird weiterhin diskutiert, ob Statine zur Primärprävention auch bei älteren Personen eingesetzt werden sollten. Aktuelle Metaanalysen und Subgruppenanalysen legen nahe, dass bei Personen ab etwa 75 Jahren das Nutzen-Risiko-Verhältnis keine Verordnung rechtfertigt, insbesondere bei reduziertem Allgemeinzustand bzw. kurzer Lebenserwartung. Ausnahme sind Patienten mit Diabetes mellitus.

Ob auch ältere Patienten von einer Behandlung mit Statinen profitieren, ist eine relevante und vieldiskutierte Frage. Unterscheiden muss man die Primärprävention, also die Behandlung von gesunden Patienten zur Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität, von der Sekundärprävention als Vermeidung von Komplikationen bei bereits manifester koronarer Herzerkrankung.

Die Verordnung von Statinen nimmt kontinuierlich zu, in den letzten zehn Jahren hat sich die Verordnungsprävalenz mehr als verdoppelt (1). Statine werden auch bei älteren Personen häufig verordnet, in den USA verdreifachte sich die Einnahme von Statinen bei über 79-Jährigen von 8,8 % in den Jahren 1999–2000 auf 34,1 % in den Jahren 2011–2012 (2).

Die Indikation zur Statingabe wird bei einem bestimmten Gesamtrisiko gestellt, das durch Risiko-Scores bestimmt werden kann. In Deutschland liegt die Schwelle bei 20 % Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis in zehn Jahren (3), während in den USA diese Schwelle nur bei 7,5 % liegt. Daraus resultiert eine deutlich höhere Number needed to treat in den USA, also eine größere Anzahl von Personen, die von der Einnahme mehr Nach- als Vorteile haben.

Im Jahr 2016 kam die US Preventive Services Task Force zum Schluss, dass die Evidenz nicht ausreichend sei, um eine Aussage bezüglich einer Nutzen-Risiko-Abwägung der Statintherapie bei Personen, die älter als 75 Jahre sind, zu machen (4).

In einem Übersichtsartikel von Gurwitz et al. wurde 2016 zusammengefasst, dass in den Studien PROSPER, JUPITER und HOPE-3 bei Erwachsenen über 75 Jahren ein mäßiger Nutzen bezüglich kardiovaskulärer Endpunkte, aber kein signifikanter Nutzen bezüglich der Gesamtmortalität festzustellen sei (5). In einer Post-hoc Analyse der ALLHAT-LLT Studie (Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to Prevent Heart Attack Trial-Lipid Lowering Trial, (6)) gab es bei Erwachsenen über 65 Jahren ebenfalls keinen signifikanten Unterschied zwischen Atorvastatin- und Placebogruppe bezüglich der Gesamtmortalität. Bei Erwachsenen über 75 Jahren kam es sogar zu einer nichtsignifikanten Erhöhung der Sterblichkeit (Hazard Ratio 1,34 für Pravastatin vs. Placebo; 95 % Konfidenzintervall 0,98–1,84; p = 0,07) (7).

Die Ergebnisse einer weiteren Studie aus Australien bezüglich Statintherapie bei älteren Menschen (STAREE) werden 2020 erwartet (8).

In einer Beobachtungsstudie konnte kein Nutzen bei Erwachsenen über 75 Jahren, die keine Diabeteserkrankung hatten, gezeigt werden (9). Bei Patienten mit Diabetes mellitus könnte die Situation anders aussehen, allerdings vor allem in der Gruppe der 75- bis 84-Jährigen mit einem kardiovaskulären Gesamtrisiko von > 20 % in zehn Jahren.

Auch in einer aktuellen Metaanalyse zur Statintherapie bei älteren Menschen konnte ein Nutzen nur in der Sekundärprävention, nicht aber in der Primärprävention gezeigt werden (10).

Zu den Risiken der Statintherapie bei älteren Menschen zählen muskuloskelettale Erkrankungen inklusive Myopathien, Myalgien, Muskelschwäche, Verletzungen, Arthropathien und dadurch Verschlechterung des Allgemeinzustands und möglicherweise Frailty. Außerdem kann es zu kognitiven Beeinträchtigungen mit erhöhter Sturzgefahr und Behinderung kommen (11).

Trotz der limitierten Evidenz heißt es in der Leitlinie des American College of Cardiology und der American Heart Association von 2018, dass bei Erwachsenen ab 75 Jahren mit einem LDL-Cholesterin von 70–189 mg/dl (1,7–4,8 mmol/l) eine moderate Statintherapie sinnvoll sein könnte (12). Diese nicht durch Evidenz belegte Empfehlung wird in einem aktuellen Kommentar von Neil Skolnik zurecht kritisiert, insbesondere auch bezüglich des nicht nachvollziehbaren LDL-Schwellenwertes von 70 mg/dl. Darin werden vier Kategorien von Situationen genannt, bei denen über das Absetzen bzw. Fortführen der Statine nachgedacht werden sollte (13):

  1. Ältere Patienten mit Frailty und limitierter Lebenserwartung: Absetzen.
  2. Sekundärprävention bei vorliegenden kardiovaskulären Erkrankungen: Fortführen.
  3. Patienten mit Diabetes: Fortführen.
  4. Erwachsene älter als 75 Jahre zur Primärprävention: gemeinsame Entscheidungsfindung, limitierte Evidenz.

Fazit für die Praxis

Bei Personen über 75 Jahren ohne Diabetes liegen derzeit keine überzeugenden Hinweise für ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis der Statintherapie in der Primärprävention vor. Insbesondere bei reduzierter Lebenserwartung und eingeschränktem Allgemeinzustand sollte ein Absetzen diskutiert werden.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Klose G, Schwabe U: Lipidsenkende Mittel. In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2019; 749-760.
  2. Johansen ME, Green LA: Statin use in very elderly individuals, 1999-2012. JAMA Intern Med 2015; 175: 1715-1716.
  3. Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. S3-Leitlinie. AWMF-Register-Nr. 053-024, DEGAM-Leitlinie Nr. 19; Berlin, 2017.
  4. Bibbins-Domingo K, Grossman DC, Curry SJ, et al.:- US Preventive Services Task Force. Statin use for the primary prevention of cardiovascular disease in adults: US Preventive Services Task Force recommendation statement. J Am Med Assoc 2016; 316: 1997-2007.
  5. Gurwitz JH, Go AS, Fortmann SP: Statins for primary prevention in older adults: uncertainty and the need for more evidence. J Am Med Assoc 2016; 316: 1971-1972.
  6. ALLHAT Officers and Coordinators for the ALLHAT Collaborative Research Group: Major outcomes in high-risk hypertensive patients randomized to angiotensin-converting enzyme inhibitor or calcium channel blocker vs diuretic: The Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to Prevent Heart Attack Trial (ALLHAT). JAMA 2002; 288: 2981-2997.
  7. Han BH, Sutin D, Williamson JD et al., ALLHAT Collaborative Research Group: Effect of Statin Treatment vs Usual Care on Primary Cardiovascular Prevention Among Older Adults: The ALLHAT-LLT Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med 2017; 177: 955-965.
  8. STAREE. A clinical trial of STAtin therapy for Reducing Events in the Elderly: ClinicalTrials.gov. NCT02099123.
  9. Ramos R, Comas-Cufí M, Martí-Lluch R et al.: Statins for primary prevention of cardiovascular events and mortality in old and very old adults with and without type 2 diabetes: retrospective cohort study. Br Med J 2018; 362: k3359.
  10. Cholesterol Treatment Trialists' Collaboration: Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. Lancet 2019; 393: 407-415.
  11. Mansi I, Frei CR, Pugh MJ et al.: Statins and musculoskeletal conditions, arthropathies, and injuries. J Am Med Assoc 2013; 173: 1-10.
  12. Grundy SM, Stone NJ, Bailey AL et al.: 2018 AHA/ACC/AACVPR/AAPA/ABC/ACPM/ADA/AGS/APhA/ASPC/NLA/PCNA Guideline on the Management of Blood Cholesterol: A Report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. J Am Coll Cardiol 2019; 73: e285-e350.
  13. Skolnik N: Reexamining Recommendations for Treatment of Hypercholesterolemia in Older Adults. JAMA 2019; 321: 1249-1250.