„Genau richtig dosieren“ bei Niereninsuffizienz – aber wie?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2020

Autorin

Zusammenfassung

Vor- und Nachteile verschiedener Methoden zur Abschätzung der Nierenfunktion und ihre Bedeutung für die Dosierung von Medikamenten werden diskutiert.

Wir alle kennen das Märchen von Goldlöckchen: Einmal ist es zu viel, dann wieder zu wenig und am Ende muss es genau richtig sein. Ähnlich verhält es sich mit der Medikamentendosierung bei niereninsuffizienten Patienten. Es ist gefährlich, manche Medikamente zu hoch zu dosieren, die Unterdosierung aus Angst vor dem Ersteren hat jedoch auch oft klinisch relevante Konsequenzen. Folglich wäre es gut, Medikamente „genau richtig“ zu dosieren. Doch wie ist das möglich?

In einem englischen (1) und einem australischen (2) Artikel wird hierzu Stellung genommen. Mehr als 2 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Niereninsuffizienz mit einer geschätzten GFR (eGFR) von < 60 ml/min (3). Daher taucht die Frage nach der richtigen Dosierung von Medikamenten bei Niereninsuffizienz immer wieder auf und auch Nephrologen stehen immer wieder vor einer Herausforderung. Die meisten Kollegen versuchen sich dann mit der Fachinformation zu behelfen. Darin wird oft auf die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR), die geschätzte Kreatinin-Clearance (eCrCl) oder das Serumkreatinin Bezug genommen.

Tabelle 1: Vor- und Nachteile eCrCl und eGFR (nach (2))


Serumkreatinin

Das Serumkreatinin ist nicht nur von der Nierenfunktion, sondern auch von Muskelmasse, Alter und Geschlecht abhängig. Der Versuch, dies in der Fachinformation zu relativieren, führt oft zu weiterer Verwirrung. So wird z. B. in der Fachinformation von Apixaban (4) angegeben: „…bei Patienten mit Serum-Kreatinin ≥ 1,5 mg/dl (133 μmol/l), die außerdem ≥ 80 Jahre alt sind oder ein Körpergewicht ≤ 60 kg haben, ist eine Dosisreduktion notwendig […]. Bei Abwesenheit weiterer Kriterien für eine Dosisreduktion (Alter, Körpergewicht) ist keine Dosisanpassung erforderlich.“

Der klinische Alltag zeigt indes, dass der Nachsatz häufig überlesen und das Apixaban schon alleine bei einem Kreatinin > 1,5 mg/dl vermindert wird, obwohl weder Alter noch Körpergewicht dies rechtfertigen. Dies kann dann zu einem erhöhten Embolierisiko führen. Bekannt ist auch, dass bei der Verwendung von DOAK die Dosierung nach eGFR mit einem höheren Blutungsrisiko verbunden ist (5).

eGFR nach MDRD und CKD-EPI

Es gibt verschiedene Formeln mit denen die GFR geschätzt werden kann, man spricht dann von „estimated“ GFR (eGFR). In den meisten Laboren ist die Berechnung nach der MDRD-Formel (Modification of Diet in Renal Disease (6)) oder CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration (7)) üblich. Für Patienten mit einer altersgemäß normalen Nierenfunktion (> 60 ml/min) ist die CKD-EPI-Formel genauer, in den höheren Stadien der Niereninsuffizienz ab CKD Grad III eignet sich auch die MDRD-Formel gut. Unabhängig von dem Rechenweg wird das Ergebnis immer in ml/min/1,73m2 Körperoberfläche (KOF) angegeben. Bei Patienten, die nicht dieser Norm entsprechen, müssen die Ergebnisse also korrigiert werden. Hat man beispielsweise einen besonders großen und schweren Patienten, unterschätzt der errechnete Wert die eigentliche glomeruläre Filtrationsrate, bei leichten und kleinen Patienten wird diese überschätzt. („eigentliche“ eGFR = eGFR x Körperoberfläche [m2] / 1,73 m2).

Außerdem ist die Muskelmasse allein auch eine häufige Fehlerquelle, da Kreatinin ein Abbauprodukt des Muskels ist. So zeigt also bei einem jungen Bodybuilder ein höheres Serumkreatinin trotzdem eine normale Nierenfunktion an, während bei einer älteren, kleinen, untergewichtigen Frau schon Werte im Normalbereich des Labors eine deutlich eingeschränkte Nierenfunktion signalisieren. Für einige Medikamente, zum Beispiel Zytostatika, ist die Berechnung der Körperoberfläche schon gängige Praxis, um die optimale Dosierung für den Patienten zu finden.

Des Weiteren ist auch relevant, welches laborchemische Verfahren verwendet wird, um das Serumkreatinin zu bestimmen, da die Grenzwerte je nach Reaktionsverfahren deutliche Unterschiede zeigen. Die neuen Messmethoden zeigen oft einen geringeren Kreatininwert an. Dies sieht man dann in den niedrigeren Normalbereichen des Laborausdrucks.

Cockcroft-Gault-Formel

Eine Alternative zur eGFR ist die Berechnung der geschätzten Kreatinin-Clearance (eCrCl) mittels Cockcroft-Gault Formel (8). Die Kreatinin-Clearance überschätzt die Nierenfunktion unterhalb einer GFR von 30 ml/min regelmäßig, da in diesem Bereich Kreatinin nicht nur filtriert, sondern auch sezerniert wird und die Ursprungsgleichung auf die gesammelte Kreatinin-Clearance als Goldstandard bezogen wurde, die das gleiche Problem hat. Einbezogen werden Geschlecht, Gewicht, Kreatinin und Alter. Als Gewicht sollte bei Menschen mit hohem BMI das Idealgewicht (Körpergröße in cm minus 100) herangezogen werden, da in aller Regel (außer bei sehr muskulösen Patienten) das Übergewicht aus Fett und nicht aus Muskelmasse besteht .Ein entsprechender Rechner für die Cockcroft-Gault-Formel und die entsprechenden Körpergewichte findet sich beispielsweise auf: https://www.mdcalc.com/creatinine-clearance-cockcroft-gault-equation. Da auch hier die alte Kreatinin-Messmethode (nach Jaffé) verwandt wurde, wird mit neueren Messmethoden die Kreatinin-Clearance um 10–20 % zu hoch geschätzt.

Gemessene Kreatinin-Clearance

Die exakte Messung der GFR ist jedoch nur mittels 24-Stunden-Sammelurin und Gabe von Substanzen möglich, die glomerulär filtriert und nicht resorbiert oder sezerniert werden (z. B. Chrom-51-EDTA, 99mTc-MAG3). Dieser Aufwand wird natürlich nur in Studien betrieben oder vor einseitigen Nephrektomien. Wird der Urin über 24 Stunden gesammelt und darin und im Serum das Kreatinin bestimmt, wird die Kreatinin-Clearance (CrCl) bestimmt. Dies ist insbesondere bei Risikogruppen wie Patienten > 75 Jahre, nephrotoxischen Arzneimitteln oder solchen mit einer geringen therapeutischen Breite indiziert. Sammelfehler sind leider häufig, eine vergessene Urinportion vermindert die Kreatinin-Clearance deutlich.

Der behandelnde Arzt sollte sich jedoch bewusst sein, dass insbesondere in höheren Stadien der chronischen Niereninsuffizienz auch die CrCl die Nierenfunktion überschätzt, da in diesem Bereich die tubuläre Sekretion von Kreatinin deutlich zunimmt. Hier müsste man dann zusätzlich eine Harnstoff-Clearance bestimmen und zwischen beiden Ergebnissen den Mittelwert bilden, um ein besseres Ergebnis zu erhalten.

Cystatin C

Die Cystatin-C-Konzentration im Serum ist nicht von der Muskelmasse abhängig. Die Verwendung dieser Messung in Formeln könnte daher bei Patienten mit Leberzirrhose oder Amputationen besser sein. Diese möglichen Vorteile müssen jedoch noch in Studien bestätigt werden. Zusätzlich ist dieses Verfahren deutlich kostspieliger als die Bestimmung des Serumkreatinins.

Akutes Nierenversagen

Als komplett unabhängige Gruppe sind Patienten mit akutem Nierenversagen zu sehen. Da sich das Serumkreatinin bei schnellen Änderungen nicht im Steady State befindet, sind die Berechnungen (egal ob eGFR oder eCrCl) hier nicht gültig. Beim anurischen Patienten bedeutet ein Kreatinin von 1,5 mg/dl nicht eine gering eingeschränkte Nierenfunktion. Die GFR beträgt 0 ml/min, da auch nichts filtriert wird. Die Dosierung von Risikomedikamenten sollte wegen dieser Unwägbarkeiten nur mit äußerster Vorsicht und regelmäßiger Dosisreevaluation erfolgen. Antibiotika mit großer therapeutischer Breite bei kritisch kranken Patienten sollten allerdings im Zweifelsfalle eher überdosiert werden.

Fazit für die Praxis

Die eGFR nach CKD-EPI (oder MDRD) kann als Maß für die Nierenfunktion für die allermeisten Medikamente trotz einiger Einschränkungen empfohlen werden. Für große und schwere oder kleine und leichte Patienten sollte sie nach Körperoberfläche korrigiert werden.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.

Literatur
  1. Medicines and Healthcare products Regulatory Agency: Prescribing medicines in renal impairment: using the appropriate estimate of renal function to avoid the risk of adverse drug reactions: www.gov.uk/drug-safety-update/prescribing-medicines-in-renal-impairment-using-the-appropriate-estimate-of-renal-function-to-avoid-the-risk-of-adverse-drug-reactions. Drug Safety Update 2019; 13 (3): 3.
  2. Stefani M, Singer RF, Roberts DM: How to adjust drug doses in chronic kidney disease. Aust Prescr 2019; 42: 163-167.
  3. Girndt M, Trocchi P, Scheidt-Nave C et al.: The prevalence of renal failure. results from the german health interview and examination survey for adults, 2008–2011 (DEGS1). Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 85-91.
  4. Bristol-Myers Squibb: Fachinformation „Eliquis® 5 mg Filmtabletten“. Stand: Oktober 2019.
  5. Perez Cabeza AI, Chinchurreta Capote PA, Gonzalez Correa JA et al.: Discrepancies between the use of MDRD-4 IDMS and CKD-EPI equations, instead of the Cockcroft-Gault equation, in the determination of the dosage of direct oral anticoagulants in patients with non-valvular atrial fibrillation. Med Clin (Barc) 2018; 150: 85-91.
  6. Levey AS, Bosch JP, Lewis JB et al.: A more accurate method to estimate glomerular filtration rate from serum creatinine: a new prediction equation. Modification of Diet in Renal Disease Study Group. Ann Intern Med 1999; 130: 461-470.
  7. Levey AS, Stevens LA, Schmid CH et al.: CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration). A new equation to estimate glomerular filtration rate. Ann Intern Med 2009; 150: 604-612.
  8. Cockcroft DW, Gault MH. Prediction of creatinine clearance from serum creatinine. Nephron 1976; 16: 31-41.

vorab online

Dieser Artikel wurde am 3. März 2020 vorab online veröffentlicht.