Paracetamol beim Morbus Meulengracht

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2020

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Zusammenfassung

Morbus Meulengracht ist eine häufige Stoffwechselstörung aufgrund eines angeborenen Enzymdefekts, die v. a. durch erhöhte Bilirubin-Spiegel gekennzeichnet ist. Der Enzymdefekt kann auch den Stoffwechsel von Arzneistoffen beeinflussen und ihren Abbau vermindern. In diesem Artikel wird daher evaluiert, ob die häufig ausgesprochenen Warnungen, bestimmte Arzneimittel beim Morbus Meulengracht nicht einzusetzen, evidenzbasiert sind.

Der Morbus Meulengracht (M. Meulengracht; auch Gilbert-Syndrom) ist eine milde, nicht hämolytische Hyperbilirubinämie (1). Bei dieser harmlosen Anomalie ist das unkonjugierte, nicht an Glucuronsäure gebundene Bilirubin in bestimmten Situationen wie Hunger, Stress oder Infektion erhöht und vorübergehend kann eine leichte Gelbsucht auftreten. Die Ursache ist meist ein Polymorphismus im Promotor des Gens für die Uridindiphosphat(UDP)-Glucuronosyltransferase mit der Bezeichnung UGT1A1*28 (2).

Bisher sind über 100 Varianten in dem Enzym UDP-Glucuronosyltransferase beschrieben, die in seltenen Fällen bei gravierenden Änderungen auch schwere Verläufe von Lebererkrankungen verursachen können (UGT1A2-10) (2;3). Solche Verläufe sind beim M. Meulengracht, der nur die UGT1A1 betrifft, nicht beschrieben. Ein isolierter M. Meulengracht ist ein gutartiger, nicht fortschreitender Zustand, der keiner Behandlung bedarf. In Kombination mit anderen Krankheiten wie z. B. Neugeborenen-Ikterus, Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel, Thalassämie, Sphärozytose, Crigler-Najjar-Syndrom spielt der M. Meulengracht möglicherweise eine zusätzliche Rolle in der Krankheitsentwicklung.

Da das UDP-Glucuronyl-Transferase-System auch am Stoffwechsel von Arzneimitteln (Glucuronidierung) beteiligt ist, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass bei Patienten mit M. Meulengracht möglicherweise auch der Abbau von Arzneimitteln vermindert ist. Aus diesem Grund werden Warnungen ausgesprochen, bestimmte Medikamente beim M. Meulengracht nicht zu verwenden, wie z. B. Schmerzmittel wie Paracetamol und Ibuprofen.

Eine kritische Literaturrecherche lieferte aber bisher keinen klaren Hinweis, dass therapeutische Dosen von Paracetamol (Acetaminophen) mit einem erhöhten Risiko für hepatische oder systemische Toxizität bei Menschen mit M. Meulengracht einhergehen. Am Paracetamol-Metabolismus sind in erster Linie die Isoenzyme UGT1A6 (und in geringerem Maße UGT1A9) beteiligt und nicht die UGT1A1 (4). In einer Untersuchung hat die Gabe von 1,5 g Paracetamol bei 18 Probanden mit M. Meulengracht keine Toxizität verursacht, trotz Unterschiede im Metabolismus (4). Es gibt offensichtlich zwei unterschiedliche Gruppen von Menschen mit M. Meulengracht: solche mit normalem Metabolismus von Paracetamol und solche mit etwas vermindertem Abbau. Jedoch war bei beiden Gruppen das Serum-Bilirubin nicht unterschiedlich.

Bisher konnte nur gezeigt werden, dass für das Krebsmedikament Irinotecan möglicherweise ein Risikofaktor für Patienten mit M. Meulengracht besteht (3). Bei Patienten mit einer HIV-Infektion kann die Behandlung mit Atazanavir ein Risikofaktor für eine erhöhte Toxizität darstellen. Für alle anderen Medikamente, wie z. B. auch für Paracetamol oder Ibuprofen gibt es keine aussagekräftigen Daten bezüglich einer Unverträglichkeit bzw. Abbaustörung bei Patienten mit M. Meulengracht.

Die Gabe von Paracetamol in therapeutischer Dosierung ist bei M. Meulengracht unproblematisch, auch wenn in der Fachinformation von Paracetamol ein entsprechender Warnhinweis angegeben wird (5). Wissenschaftlich ist diese Warnung nicht begründet, eine kurzfristige Anwendung von Paracetamol z. B. bei Kindern oder Erwachsenen mit Fieber und/oder Schmerzen ist auch beim M. Meulengracht sicher.

Wenn bei der Gabe von (neuen) Medikamenten das verstärkte Auftreten einer Gelbsucht beobachtet wird, sind weitere Untersuchungen erforderlich. Sehr selten kann sich die (falsche) Diagnose eines M. Meulengracht im Verlauf als eine potenziell komplexe, genetisch definierte Variante der Glucuronidierungsfunktion darstellen. Diese Konstellation ist aber extrem selten.

Fazit für die Praxis

Es ist festzustellen, dass es bei Patienten mit M. Meulengracht keine Einschränkung in der medikamentösen Therapie gibt. Jedoch besteht ein erhöhtes Risiko für eine verstärkte Gelbsucht bei dem Krebsmedikament Irinotecan und bei dem HIV-Medikament Atazanavir. Sollte bei einem anderen Medikament sich die Gelbsucht verstärken, sollte der Patient dies mit seinem Arzt besprechen. Dann sind gegebenenfalls weitere Untersuchungen (u. a. auch pharmakogenomische Tests) notwendig und diese mögliche Nebenwirkung sollte der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft gemeldet werden.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Fretzayas A, Moustaki M, Liapi O, Karpathiosretzayas T: Eponym Gilbert syndrome. Eur J Pediatr 2012; 171: 11–15.
  2. Strassburg CP: Pharmacogenetics of Gilbert's syndrome. Pharmacogenomics 2008; 9: 703-715.
  3. Radu P, Atsmon J: Gilbert's syndrome – clinical and pharmacological implications. Isr Med Assoc J 2001; 3: 593-598.
  4. Esteban A, Perez-Mateo M: Heterogeneity of paracetamol metabolism in Gilbert's syndrome. Eur J Drug Metabol Pharmacokin 1999; 24: 9-13.
  5. Ratiopharm GmbH: Fachinformation “Paracetamol-ratiopharm® 500 mg Tabletten”. Stand: Mai 2019.

vorab online

Dieser Artikel wurde am 13. Dezember 2019 vorab online veröffentlicht.