AkdÄ-Fortbildungstag „Rationale und sichere Arzneimitteltherapie“

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2020

Wir berichten über den AkdÄ-Fortbildungstag zum Thema „Rationale und sichere Arzneimitteltherapie“.

Am geschichtsträchtigen 9. November – 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer – fand der diesjährige AkdÄ-Fortbildungstag statt zum Thema „Rationale und sichere Arzneimitteltherapie“ im Hörsaal des Kaiserin-Friedrich-Hauses in Berlin.

Die für die Teilnehmer kostenfreie Veranstaltung richtete sich an klinisch tätige Ärzte und war mit 6 Fortbildungspunkten anerkannt. Das umfassende Programm bot ein breites thematisches Spektrum an: Am Vormittag ging es um unabhängige Arzneimittelinformationen (Vortrag Prof. W.-D. Ludwig), rationale Antibiotikatherapie (Vortrag Prof. W. V. Kern) und Umgang mit Multimedikation (Vortrag Prof. K. D. Grandt). Der Nachmittag begann mit einem Vortrag zum Thema „Pharmakovigilanz“ (Frau PD Dr. M. Pitzer). Danach gaben Mitglieder der AkdÄ ein kurzes Update über das jeweilige Fachgebiet: „Was gibt es Neues?“ in der Onkologie (PD Dr. S. Fetscher), Diabetologie (Dr. A. Klinge) und Depressionstherapie (Prof. T. Bschor). Unter aktuellen medizinischen Gesichtspunkten wurde dabei der neueste Stand der Forschung vorgestellt und zugleich hinsichtlich seiner Bedeutung für die Praxis diskutiert.

Moderiert wurde der Fortbildungstag vom Vorstandsmitglied der AkdÄ Prof. W.-B. Niebling. Die Vorträge stehen Ihnen auf der Internetseite der AkdÄ zur Verfügung: https://www.akdae.de/Fortbildung/Vortraege/

Unabhängige Arzneimittelinformationen

Im 200. Geburtsjahr des bedeutenden deutschen Schriftstellers Theodor Fontane eröffnete der Vorsitzende der AkdÄ Prof. Wolf-Dieter Ludwig seinen Vortrag frei nach einem Zitat von ihm: „…das ist ein zu weites Feld.“ und stellte einführend die im Jahr 2018 neu zugelassenen Arzneimittel vor, von denen viele als Orphan-Arzneimittel zugelassen wurden – häufig im Rahmen von beschleunigten Verfahren. Prof. Ludwig wies allerdings darauf hin, dass nur einige wenige eine tatsächliche Innovation darstellen, da sie weder einen ungedeckten medizinischen Bedarf decken, noch einen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu bereits eingeführten Arzneimitteln haben, z. B. durch bessere Wirkung, weniger Nebenwirkungen oder Verbesserung der Lebensqualität der Patienten. Um echte Innovationen zu erkennen, benötigen Ärzte unabhängige Arzneimittelinformationen beispielsweise aus klinischen Studien, Leitlinien und Fortbildungsveranstaltungen. Prof. Ludwig stellte diese drei Informationsquellen unter dem besonderen Aspekt der Transparenz und der Interessenkonflikte vor. Weiterhin wurden der Informationszugewinn in Deutschland durch die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V sowie die Ergebnisse der bereits abgeschlossenen Verfahren dargestellt. Prof. Ludwig begrüßte explizit die geplante Implementierung der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zur frühen Nutzenbewertung in die Praxisverwaltungssysteme der Vertragsärzte. Zum Abschluss des Vortrags wurde das breite Informationsportfolio der AkdÄ vorgestellt, das Ärzten zur Verfügung gestellt wird, um eine rationale und sichere Arzneimitteltherapie zu unterstützen.

Rationale Antibiotikatherapie

Prof. Winfried V. Kern hatte zu Beginn gute Nachrichten und zeigte die Trends in der Antibiotikaverordnung: Im ambulanten und im stationären Bereich gingen 2018 die Verordnungen von oralen Cephalosporinen und Fluorchinolonen, die als Mittel der Reserve gelten, im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurück. Diese Trends könnten helfen, die Ausbreitung gefürchteter Resistenzen einzugrenzen. Zudem wies der Experte darauf hin, dass insbesondere Fluorchinolone für banale Infektionen wie Sinusitis und unkomplizierte Harnwegsinfekte nicht nur nicht empfohlen sind, sondern auch schwerwiegende Nebenwirkungen wie z. B. Achillessehnenruptur bedingen können und dadurch dauerhafte Schäden hervorrufen. Prof. Kern stellte zudem vier neu zugelassene Antibiotika vor und gab eine kurze Bewertung der Wirkstoffe ab. Auf die Frage aus dem Publikum zu einer Penicillin-Allergie, die in der Praxis häufig die Verordnung von Reserveantibiotika bedingt, gab es eine klare Antwort: Eine „echte“ Penicillin-Allergie sei sehr selten und deswegen soll eine solche anamnestische Angabe vom Patienten bzw. Eintragung im Allergiepass immer kritisch hinterfragt werden. Im Regelfall handele es sich dabei um nicht schwerwiegende Nebenwirkungen wie z. B. Urtikaria nach Penicillin-Einnahme, die keine Kontraindikation für eine Penicillin-Gabe darstellten.

Umgang mit Multimedikation

Prof. Kai Daniel Grandt griff das Thema der medikamentösen Therapie bei Älteren auf und begann seinen Vortrag mit den unterschiedlichen Facetten der Multimorbidität, die in dieser Patientenpopulation vorkommen und häufig zu einem problematischen „Medikamenten-Mix“ führen. Zwar sind vermeidbare Risiken der Arzneimitteltherapie gut bekannt, allerdings werden aus Sicht des Referenten noch längst nicht alle Patienten ausreichend vor Medikationsfehlern geschützt. Ein großes Risiko stellt die Polypharmazie – die Einnahme von mehr als fünf verschiedenen Arzneimitteln zugleich – dar, die laut einer Analyse der Barmer Ersatzkasse jeden fünften Bundesbürger betrifft. Patienten nehmen häufig sogar 10 bis 15 verschiedene Arzneimittel gleichzeitig ein. Zum Umgang mit Multimedikation fand Prof. Grandt daher deutliche Worte: Bei 90 % der Patienten finden sich Arzneimittel wieder, die abgesetzt werden können. Ein konsequentes „Deprescribing“ bei Multimedikation unter Beachtung der sogenannten STOPP-Regeln ist ein erster Schritt, um die Polypharmazie zu optimieren und die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) zu erhöhen. Weiterhin sollen insbesondere Arzneimittelkombinationen geprüft werden. Welche Arzneimittel typischerweise die meisten Probleme bereiten, stellte der Experte anhand von zu vermeidenden Arzneimittelkombinationen vor. Abschließend erklärte Prof. Grandt, dass die Verbesserung der AMTS und der Patientensicherheit häufig an der inadäquaten Risikowahrnehmung von Ärzten und Patienten sowie am sorglosen Umgang mit der Verordnung bzw. Einnahme von Arzneimitteln scheitert. Hierzu forderte er – am Beispiel der Einführung der Anschnallpflicht im Auto – die Vermittlung eines angemessenen Verständnisses für die Risiken der Arzneimitteltherapie.

Pharmakovigilanz

Frau PD Dr. Martina Pitzer stellte interessante Fälle zu Nebenwirkungen und Medikationsfehlern vor, die der AkdÄ im Rahmen des Spontanmeldesystems berichtet wurden, u. a. zu Methylphenidat und zum neuen Herpes-zoster-Impfstoff. Zu Beginn gab sie eine kurze Einführung zur Definition und zum Ziel von Pharmakovigilanz. Sie stellte die offenen Fragen zur Sicherheit von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen bei Marktzulassung dar, die erst im „Radar“ des Spontanmeldesystems für Nebenwirkungen identifiziert werden können. Dazu gehören die seltenen und sehr seltenen Nebenwirkungen, die Langzeitsicherheit von Arzneimitteln und Spätfolgen, die Sicherheit in speziellen Patientengruppen wie Kinder, Schwangere und Ältere sowie die Wechselwirkungen und Probleme bei der Anwendung der Arzneimittel im Alltag. Frau PD Dr. Pitzer zeigte zudem, wie Nebenwirkungsmeldungen an die AkdÄ aufgearbeitet werden und welche Maßnahmen sich aus solchen Meldungen ergeben können. Vorgestellt wurde auch der Leitfaden der AkdÄ „Nebenwirkungen melden“, der in kompakter Form Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Melden von Nebenwirkungen gibt. In diesem wird unter anderem dargestellt, welche Nebenwirkungen Ärzte melden sollten und was dabei hinsichtlich des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht beachtet werden muss. Der Leitfaden „Nebenwirkungen melden“ ist verfügbar unter: https://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/LF/UAW/

Update Onkologie

PD Dr. Sebastian Fetscher vermittelte mit seinem Vortrag eine neue Sicht auf das Bronchialkarzinom. Er führte aus, dass es vor 20 Jahren noch die grobe Einteilung in „Kleinzeller“ bzw. „Nichtkleinzeller“ bei dieser sehr häufigen Krebserkrankung gegeben habe, diese jedoch heute nicht mehr ausreiche, um die einzelnen Krankheitsentitäten zu beschreiben, die sich aus der molekularen Typisierung der Bronchialkrebszellen ergeben. PD Dr. Fetscher berichtete, dass das klinische Bild der Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) immer differenzierter wird, weil auch die Molekulargenetik der Krebszellen detaillierter unterschieden wird und eine therapeutische Relevanz erlangt. Die personalisierte Behandlung nach Biomarker-Status erzielt immer bessere Therapieergebnisse und verbessert dadurch die Prognose der Patienten mit NSCLC: Innerhalb von 20 Jahren wurde dadurch das Überleben beim metastasierten NSCLC deutlich verlängert. Damit schlage sich ein echter wissenschaftlicher Fortschritt in beginnenden klinischen Fortschritt nieder. Allerdings sei ein metastasiertes NSCLC immer noch nicht heilbar, sodass die „targeted therapy“ bisher nur eine Verbesserung der palliativen Therapie darstelle. Der Experte wies darauf hin, dass die übliche palliativmedizinische Betreuung möglicherweise wirksamer und kosteneffektiver als die Therapie mit neuen Medikamenten sei. Zudem bergen die neuen Medikamente auch eine erhebliche Toxizität und das Risiko für zahlreiche immunvermittelte Nebenwirkungen, die unberechenbar und zudem potenziell letal sind.

Update Diabetologie

Dr. Andreas Klinge begann seinen Vortrag mit der Darstellung der rationalen Therapieziele bei Diabetes mellitus, die sich primär nach den HbA1c-Zielwerten richten mit dem Ziel, durch Blutzuckersenkung mikro- und makrovaskuläre Endorganschäden zu vermeiden. Der aktuell anzustrebende HbA1c-Zielkorridor beträgt 6,5–8,5 %. Dr. Klinge wies allerdings darauf hin, dass der HbA1c-Wert bei gesunden Personen um etwa 0,1 Prozentpunkte pro Lebensdekade zunimmt und zudem auch bei Eisenmangelanämie erhöht ist. Dies solle bei der Diagnosestellung von Diabetes mellitus aber auch bei der Behandlung berücksichtigt werden. Die derzeit gültige Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Diabetes mellitus empfiehlt sogar HbA1c-Zielwerte von 6,5–7,5 % und den Beginn einer medikamentösen Therapie mit Metformin, wenn Diät und Bewegung nicht ausreichen. Wenn nach drei bis sechs Monaten das individuelle HbA1c-Ziel nicht erreicht wurde, soll Insulin allein oder eine Zweifachkombination zur Anwendung kommen, nach weiteren drei bis sechs Monaten werden die intensivierte Insulintherapie und Kombitherapieformen empfohlen. Dr. Klinge wies darauf hin, dass die NVL derzeit aktualisiert wird. Weiterhin zeigte er auf, dass Sulfonylharnstoffe zusätzlich zu Metformin verwendet werden können, weil sie wirksam mikrovaskuläre Komplikationen reduzieren und eine gute kardiovaskuläre Sicherheit aufweisen. Bei manifester kardiovaskulärer Erkrankung sollen allerdings frühzeitig SGLT-2-Inhibitoren wie Empagliflozin bzw. GLP-1-Analoga wie Liraglutid eingesetzt werden.

Update Depressionstherapie

Prof. Tom Bschor stellte in seinem Vortrag Neuigkeiten in der Pharmakotherapie der Depression dar, als eine der drei Säulen der psychiatrischen Therapie solcher Erkrankungen. Zu Beginn zeigte der Experte die Verordnungen für Antidepressiva in Deutschland, deren Volumen (in definierten Tagesdosen, DDD) sich in den letzten 15 Jahren nahezu verfünffacht hat. Nach der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Unipolare Depression sollten Antidepressiva nicht generell zur Erstbehandlung bei leichten depressiven Episoden eingesetzt werden, sondern allenfalls unter besonders kritischer Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Bei mittelgradigen bzw. schweren Symptomen stehen diverse Wirkstoffklassen bereits seit Jahren zur Verfügung, z. B. trizyklische Antidepressiva, MAO-Hemmer, SSRI und SNRI. Diese Vielfalt macht die Auswahl eines Arzneimittels für die Behandlung der Depression umso schwieriger – insbesondere weil häufig direkte Vergleiche zwischen den einzelnen Wirkstoffen fehlen. Prof. Bschor stellte deswegen ein aktuelles systematisches Review mit Netzwerkanalyse vor, das die Wirksamkeit und Patientenakzeptanz von 21 Antidepressiva zur Behandlung der schweren Depression analysierte. Weiterhin ging er auf die drei Phasen der Depressionsbehandlung – Akuttherapie, Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe – ein und gab klare Empfehlungen zum Vorgehen bei Non-Response auf Antidepressiva, das u. a. Absetzen, Kontrolle des Blutspiegels, Aufdosierung, Substanzwechsel, Kombinationstherapien und Augmentation mit Lithium oder atypischen Neuroleptika beinhaltet.

 

Der nächste Fortbildungstag der AkdÄ findet im Januar 2021 statt.

Weitere Informationen zu Fortbildungsveranstaltungen der AkdÄ finden Sie unter: https://www.akdae.de/Fortbildung/Kalender/.

 

vorab online

Dieser Artikel wurde am 3. Januar 2020 vorab online veröffentlicht.