Editorial

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2019

Autor

Acht Jahre ist es her, dass in Deutschland das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der GKV (AMNOG) eingeführt wurde. Es soll verhindern, dass dem Gesundheitssystem unnötige Mehrkosten für Pseudoinnovationen entstehen. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten war damit verbunden die Hoffnung auf eine Zunahme echter Innovationen, also Neueinführungen von Arzneimitteln mit therapeutischem Mehrwert. Bezogen auf diese Hoffnung hat sich das AMNOG bisher noch nicht als wirksam erwiesen. Nach wie vor können neue Medikamente mit nicht quantifizierbarem oder nicht belegtem Zusatznutzen in Deutschland verordnet werden. Ein Effekt ist allenfalls in den Arzneimittelkosten zu sehen – die Einsparungen 2017 durch das AMNOG-Verfahren werden auf knapp 1,8 Mrd. Euro geschätzt (1).

Die nüchterne Bilanz: Bei 137 von insgesamt 333 Bewertungsverfahren wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss das Fehlen eines Zusatznutzens beschlossen. In 64 Fällen wurde ein geringer Zusatznutzen gesehen, in 57 Verfahren wurde ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen anerkannt. Mit anderen Worten: In gerade einmal einem Fünftel der Verfahren wurde mindestens ein beträchtlicher zusätzlicher therapeutischer Nutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie gesehen. Das bleibt deutlich hinter dem zurück, was die AkdÄ von einer modernen Arzneimittelentwicklung als stetigen therapeutischen Fortschritt erwartet.

Nach wie vor ist das zentrale Problem, dass pharmazeutische Unternehmer für die Arzneimittelzulassung nur eine akzeptable Wirksamkeits-Risiko-Bilanz des neuen Präparates per se nachweisen müssen. Ein Vergleich mit den bisher für diese Indikation verfügbaren medikamentösen Therapien ist nicht unbedingt erforderlich. Ob die Neueinführung also eine klinisch relevante Verbesserung darstellt, ist für die Zulassung irrelevant. Im Sinne einer rationalen Arzneimitteltherapie ist dies inakzeptabel.

Die AkdÄ mit ihren fachkundigen Mitgliedern war von Anfang an an der frühen Nutzenbewertung beteiligt. Was fällt auf am Bericht der AkdÄ in dieser Ausgabe von AVP (2) zu diesem wichtigen Tätigkeitsbereich der Kommission?

Erstens hat sich die AkdÄ mit 32 Prozent an weniger Verfahren beteiligt als erwartet. Dies liegt vorwiegend an den begrenzten personellen Ressourcen, unter anderem in der Geschäftsstelle der AkdÄ. Eine stärkere Beteiligung der Kommission an den AMNOG-Verfahren wird von vielen Seiten gefordert. Dies erfordert aber eine bessere personelle Ausstattung der AkdÄ.

Zweitens erschreckt die oben genannte niedrige Zahl von Arzneimitteln mit gesichertem Zusatznutzen. Seit Jahren ist zu beobachten, dass etwa ein Drittel der neu zugelassenen Arzneimittel für die Behandlung von Krebskrankheiten entwickelt werden, da sich die pharmazeutische Industrie ganz gezielt auf dieses lukrative Marktsegment konzentriert. Regelmäßig muss die AkdÄ das unbefriedigende Design der Zulassungsstudien kritisieren, insbesondere, was Beobachtungsdauer, Endpunkte oder Vergleichstherapien angeht. Bleibt es bei den derzeit wenig restriktiven Kriterien für die Zulassung von Arzneimitteln, kann diese nur mit der Verpflichtung zu weiteren Studien zum therapeutischen Stellenwert erfolgen. Deren Ergebnisse müssen obligat zur erneuten Nutzenbewertung führen – durchaus auch mit der Möglichkeit des Widerrufs der Erstattungsfähigkeit.

Ein drittes Problem sind Arzneimittel für seltene Krankheiten. Diese sogenannten Orphan Drugs hebeln die Nutzenbewertung aus, da bei ihnen gemäß Verfahrensordnung zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach AMNOG ein fiktiver, bereits durch die Zulassung belegter Zusatznutzen angenommen wird. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass der Orphan-Drug-Status, insbesondere in der Onkologie, zunehmend missbraucht wird, um einer fairen Nutzenbewertung zu entgehen (3). Mit guter Begründung fordert die AkdÄ daher eine reguläre Nutzenbewertung auch für Orphan Drugs.

Eine günstige „Nebenwirkung“ hat das AMNOG allerdings aus wissenschaftlicher Sicht. Seit Langem ist bekannt, dass Publikationen klinischer Studien in wissenschaftlichen Journalen die Daten oft nur lückenhaft berichten, zum Teil selektiert zugunsten des Prüfpräparates des Sponsors. Selbst der Blick in das typische „supplementary material“ hilft hier selten weiter. Das Bewertungsverfahren nach AMNOG stellt demgegenüber einen Erkenntnisgewinn dar, da mit den verschiedenen Modulen des Dossiers alle Daten vollständig berichtet werden müssen (4).

 

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. von Stackelberg JM, Haas A, Tebinka-Olbrich A et al.: Ergebnisse des AMNOG-Erstattungsverfahren. In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig WD, Klauber J (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2018. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2018; 217-238.
  2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Verfahren der frühen Nutzenbewertung – Stellungnahmen der AkdÄ. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2019; 46: 97-104.
  3. Ludwig WD: Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig WD, Klauber J (Hrsg.) Arzneiverordnungs-Report 2018. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2018; 27-51.
  4. Köhler M, Haaq S, Biester K et al.: Information on new drugs at market entry: retrospective analysis of health technology assessment reports versus regulatory reports, journal publications, and registry reports BMJ 2015; 350: h796.