Mehrfachimpfungen bei Säuglingen und Kleinkindern – Grundlage, Wirksamkeit und Verträglichkeit

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 4/2017

Autor

Zusammenfassung

Nutzen und mögliche Risiken von Mehrfachimpfungen werden diskutiert. Sowohl für die Gemeinschaft als auch für das einzelne Kind überwiegen die Vorteile die Risiken bei Weitem und können daher empfohlen werden.

Abstract

Benefit and possible risks of combinations of vaccination are discussed. For our community and for the individual child the benefits outweigh the risks by far and can be highly recommended.

Wegen eines Mangels an klinischen Studien sind Kinder bezüglich einer evidenzbasierten Pharmakotherapie gegenüber Erwachsenen eindeutig benachteiligt. Eine Ausnahme bilden Impfungen, deren Wirksamkeit und Verträglichkeit auch bei Kleinkindern in klinischen Studien sehr gut untersucht sind und deren Sicherheit nach dem Infektionsschutzgesetz vorbildlich überwacht wird. Zudem werden Impfregime durch die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz festgelegt. Deswegen ist unverständlich, weshalb Impfungen nicht uneingeschränkt als segensreiche Präventionsmaßnahme akzeptiert, bewährte Impfschemata hinterfragt und immer wieder Kinder nicht sachgerecht geimpft werden. Besonders problematisch ist neben dem fehlenden Impfschutz (fehlende oder unzureichende Grundimmunisierung) die zusätzliche Belastung der Kinder durch zu häufige Verwendung von Einzelimpfstoffen.

Nach einem höchstrichterlichen Urteil des Bundesgerichtshofes von 2017 sind Schutzimpfungen eines Kindes „auch dann eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung für das Kind, wenn es sich um eine sogenannte Standard- oder Routineimpfung handelt“ (1). Ohne Zweifel gehören Impfungen zu den wichtigsten Präventionsmaßnahmen im ersten Lebensjahr eines Kindes und der Umfang des Impfprogramms mit Mehrfachimpfungen in festgelegten Dosen, deren Anzahl und deren Abstände beruhen auf epidemiologischen, für die Bevölkerung abgestimmten Daten. Eine grundsätzliche Abweichung davon ist nur in seltenen Fällen (z. B. Immundefekte, schwerwiegende Krankheiten) gegeben und individuelle Impfschemata mit zu vielen Injektionen ohne Grund sind ethisch bedenklich. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt seit über 40 Jahren Kombinationsimpfungen und weltweit verhindern diese Impfungen zwei bis drei Millionen Tote pro Jahr aufgrund nationaler Impfprogramme (2).

Impfung mit inaktivierten Impfstoffen (Totimpfstoffe)

Die Impfung mit inaktivierten Impfstoffen erfolgt in einer Grundimmunisierung mit zwei und mehr Impfdosen. Dabei erscheinen die in 32 europäischen Ländern praktizierten Impfschemata (Grundimmunisierung) heterogen, lassen sich aber auf ein 2+1- bzw. 3+1-Schema zurückführen (3). Aufgrund von Untersuchungen zur Immunogenität von Mehrfachimpfstoffen entwickeln 96–100 % der Kinder einen Monat nach der zweiten Impfung wahrscheinlich seroprotektive Antikörper gegen Diphtherie, Tetanus, Hepatitis B, Poliomyelitis und Pertussis, aber nicht gegen Hämophilus Influenza B (HiB), bei denen nur 91,7 % seroprotektiv wurden (3). Bei diesem 2+1-Schema ist es dringend erforderlich, den Abschluss der Grundimmunisierung vor oder mit dem ersten Lebensjahr abzuschließen, da der Anteil der geschützten Personen vor dieser Impfung auf 79,1 % (z. B. für Diphtherie) abfällt.

In Deutschland wird ein „akzeleriertes“ 3+1-Impfschema empfohlen und praktiziert, bei dem die erste Dosis eines sechsfachen Kombinationsimpfstoffes ab einem Alter von zwei (vollendeten) Lebensmonaten und die dabei nachfolgenden Impfstoffe in monatlichen Abständen verabreicht werden. Die vierte Dosis, eine erste Auffrischimpfung, ist ab dem 11. Lebensmonat angezeigt (4). Der Vorteil dieses Impfplans ist der schnelle Aufbau der Immunität, vor allem für Pertussis. Aufgrund von Daten zur Immunogenität wurde unter Berücksichtigung der epidemiologischen Situation im Jahre 2015 die Impfung gegen invasive Pneumokokkeninfektion in ein 2+1-Schema geändert; dies gilt aber nicht für ehemalige Frühgeborene, bei denen weiterhin das 3+1-Schema auch für die Pneumokokkenimpfung gilt.

Impfung mit abgeschwächten Impfstoffen (Lebendimpfstoffe)

Im Gegensatz zu Totimpfstoffen werden bei Lebendimpfstoffen abgeschwächte, aber funktionstüchtige Viren in sehr geringen Mengen verabreicht, die bei normalem Immunsystem keine Krankheit oder allenfalls vorübergehend sehr milde Symptome verursachen können. Der Vorteil der Lebendimpfung ist oft ein lebenslanger Schutz. Nachteil ist, dass eine Lebendimpfung erst möglich ist, wenn das Kind die Leihantikörper der Mutter aus dem eigenen Körper eliminiert hat (in der Regel im Laufe der ersten sechs Lebensmonate). Die in der Schwangerschaft transplazentar von der Mutter auf das Kind übertragenen IgG-Antikörper können Infektionserreger eliminieren (Nestschutz), aber auch Lebendimpfstoffe. Für die Rotavirusinfektion gibt es keinen Nestschutz und die Impfung gegen das Rotavirus ist als Schluckimpfung schon ab der 6. Lebenswoche möglich.

Gegen Masern werden seit Jahren alle Kinder im Alter von 11 bis 14 Monaten in Kombination mit Mumps und Röteln (MMR-Impfung) geimpft, und in Kombination mit Varizellen seit 2004 mit einer und seit 2009 mit zwei Impfungen im Abstand von mindestens vier Wochen (5). Aufgrund der guten Überwachung möglicher Komplikationen durch Impfungen zeigte sich bei der ersten, aber nicht bei der zweiten Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken eine etwas erhöhte Rate an Fieber und vor allem an Fieberkrämpfen bei Kindern, die primär mit dem Vierfach-Kombinationsimpfstoff Masern-Mumps-Röteln-Varizellen (MMRV) geimpft wurden, verglichen mit denen, die zwar simultan gegen Masern-Mumps-Röteln, aber gleichzeitig an einer anderen Stelle mit einem monovalenten Varizellen-Impfstoff geimpft wurden. Deswegen empfahl das Robert Koch-Institut (6) und der Gemeinsame Bundesausschuss im Jahre 2011, die erste Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln als Dreifach-Impfung an einem separaten Ort zu impfen und an einem anderen Ort gegen Varizellen mit einem monovalenten Impfstoff. Die zweite MMRV-Impfung dient nicht der Boosterung, sondern ermöglicht den Impfversagern den Aufbau eines wirksamen Impfschutzes. Ein wirksamer Impfschutz gegen Masern ist bei Kleinkindern besonders wichtig, da die fatale Komplikation einer Maserninfektion, die subakute sklerosierende Panencephalitis (SSPE) in dieser Altersgruppe viel häufiger vorkommt als früher angenommen (7).

Die Varizellenimpfung ist nicht mit der Masernimpfung vergleichbar, da die Maserninfektion bezüglich des Risikos einer Schädigung oder gar des Todes gefährlicher ist als die Varizelleninfektion. Trotzdem ist die Varizelleninfektion gefährlich, wenn die Immunabwehr gestört ist, und vor allem, wenn durch Tumortherapie oder Therapie von immunologischen Krankheiten und Allergien die Immunabwehr unterdrückt wird. Deswegen, aber auch weil Deutschland eines der ersten Länder in Europa war, das eine generelle Empfehlung zu einer flächendeckenden Impfung gegen Varizellen bei Kindern eingeführt hat, gibt es immer noch Diskussionen um die generelle Impfempfehlung. Die Wirksamkeit der Impfung ist bewiesen und bei einer hohen Impfrate wird sich die generelle Varizellenimpfung sehr positiv entwickeln (8). Durch die Einführung der Varizellenimpfung zeigte sich ein Rückgang an Varizellenkomplikationen um 93 % (von 142 Fälle im ersten auf 10 im sechsten Beobachtungsjahr) (8).

Meldesystem für Impfkomplikationen durch das Infektionsschutzgesetz

Mögliche Impfkomplikationen, die über eine normale Impfreaktion hinausgehen (normal sind Rötung, Schwellung und Schmerzen an der Impfstelle, kurzfristiges Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen) müssen nach dem Infektionsschutzgesetz verpflichtend und namentlich gemeldet werden („adverse events following immunization“, AEFI). Hier ist der Arzt zur Meldung gesetzlich verpflichtet, anders als bei der Meldung eines Verdachts auf unerwünschte Arzneimittelwirkung. Deswegen kann das Paul-Ehrlich-Institut jedes Jahr die gemeldeten Impfnebenwirkungen bzw. -komplikationen bewerten und veröffentlichen. Im Jahre 2015 erhielt das Paul-Ehrlich-Institut insgesamt 3919 Einzelmeldungen über Verdachtsfälle von Impfkomplikationen (9). Nur bei einem Drittel der schwerwiegenden Komplikationen konnte ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und der beobachteten Symptomatik nachgewiesen werden. Bei 18 Fällen (0,5 %) wurde ein tödlicher Ausgang berichtet (darunter 11 Kinder im Alter von zwei Monaten bis 16 Jahre), bei dem in keinem Fall ein sicherer Zusammenhang mit der Impfung nachgewiesen werden konnte. Bei 58 (1,5 %) wurde ein bleibender Schaden gemeldet. Insgesamt wurden 18 bekannte und extrem seltene Impfschäden anerkannt, wie Abszesse, Narkolepsie nach Grippe bzw. FSME-Impfung, Invagination nach Rotavirusimpfung. Es konnte kein neues Risikosignal für die in Deutschland angewandten Impfstoffe gefunden werden. Insgesamt zeigt das Überwachungssystem für Impfkomplikationen bei Millionen Impfungen pro Jahr ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis.

Belastung der Säuglinge durch die Impfung

Immer wieder werden Eltern verunsichert, dass die Verabreichung der Mehrfachimpfstoffe für die Säuglinge und Kleinkinder (Sechsfachimpfung plus Impfung gegen Pneumokokken, Meningokokken und die Masern-Mumps-Röteln-Varizellen-Impfung) zu belastend seien, und das Immunsystem „überlastet“ wird, da es noch nicht ausgereift ist (sogenannte individuelle Impfschemata). Während der Schwangerschaft ist das kindliche Immunsystem physiologischerweise herunterreguliert, da es die Mutter nicht als fremd bekämpfen darf. Aber nach der Geburt tritt das Neugeborene mit einer Vielzahl von Fremdstoffen in Kontakt und muss, um sich schnell zu schützen, rasch sein eigenes Abwehrsystem aufbauen. Für ein Neugeborenes ist z. B. die Kreislaufumstellung unmittelbar nach Geburt auch keine unzumutbare Belastung, weil das System noch nicht ausgereift ist, sondern eine biologische Notwendigkeit. Gerade kleine Säuglinge und vor allem auch Frühgeborene profitieren von frühzeitigem Schutz durch spezifische Antikörper infolge von Kombinationsimpfungen (Aufbau einer antigenspezifischen Immunität). Für eine Überlastung des kindlichen Immunsystems durch die in Deutschland praktizierten Impfungen gibt es keine wissenschaftlich begründete Basis.

Alternative Impfstrategien oder individuelle Impfpläne entbehren in der Regel einer wissenschaftlichen Erkenntnis; sie beruhen auf der irrigen Meinung, dass das kindliche Immunsystem langsam reift, nicht überfordert werden darf und Impfungen beliebig vorgenommen werden können. Sie beachten nicht die epidemiologische Situation und den notwendigen Aufbau einer wirksamen Herdenimmunität in der Bevölkerung. Sicher sind Impfungen nicht verträglicher, wenn sie erst ab dem Laufalter empfohlen werden.

Jede Impfung ist auch bezüglich der Wirksamkeit und des Ziels unterschiedlich. Impfungen betreffen nicht nur den individuellen Schutz (v. a. Tetanus, Diphtherie), sondern es wird eine kollektive Immunität (Herdenimmunität) in der Gesamtbevölkerung aufgebaut, die dazu führt, dass sich die Erreger in der Bevölkerung nicht weiter ausbreiten. Deshalb müssen Impfprogramme nicht nur national, sondern auch international abgestimmt sein. Dies betrifft nicht nur das Ziel, eine impfpräventable Krankheit auszurotten, wie das bei der Pockenkrankheit erfolgreich war und bei den Masern angestrebt wird. Durch die Herdenimmunität werden auch nicht geimpfte Personen wie Säuglinge oder immundefiziente Patienten vor diesen Krankheiten geschützt, obwohl sie selbst dagegen (noch) nicht immun sind. Auch Impfkritiker oder -gegner sowie ihre Kinder und Familien profitieren von der Herdenimmunität.

Jede intramuskuläre oder subkutane Injektion ist für ein Kleinkind eine Belastung. In der Routine erhalten Säuglinge und Kleinkinder zur Grundimmunisierung bis zum 15. Lebensmonat insgesamt 36 Einzelimpfungen (inklusive Meningokokkenimpfung 28 Totimpfstoffe und 8 Lebendimpfstoffe). Durch die Kombinationsimpfstoffe liegt die Zahl der tatsächlichen Injektionen bei 8 bzw. 9, wenn der Vierfachimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken nur einmal verwendet wird. Bei individuellen Impfschemata unter Verwendung von mehreren Einzelimpfstoffen steigt die Zahl der Injektionen weit über 10, manchmal bis zu 20 Injektionen – eine Belastung, die ethisch schwer zu begründen ist.

Fazit für die Praxis

Kombinationsimpfungen in der von der STIKO empfohlenen Sequenz tragen in hohem Maß zur Prävention von schwerwiegenden Krankheiten bei. Je seltener die Krankheiten geworden sind, umso geringer ist unser Bewusstsein für deren Gefährlichkeit und für die Notwendigkeit der Bekämpfung. Aus Unkenntnis der Schwere der Krankheit und der Wirkung und Wirksamkeit der Impfung für die Gesamtbevölkerung plädieren leider einige Kolleginnen und Kollegen für individuelle Impfentscheidungen und generieren damit Probleme, die unser Gesundheitssystem im Prinzip gelöst hat.

Wenn Eltern die Impfung ihres Kindes verweigern, zeigt sich ein ethischer Konflikt zwischen dem besten Interesse für das Kind und der Autonomie der Interessen der Eltern. Inwiefern der Staat bzw. seine Behörden den Willen der Eltern übergehen sollten, um Kinder zu schützen bzw. ihnen das Recht auf einen Impfschutz zukommen zu lassen, ist schwierig zu bewerten. Durch die hohe, aber nicht ausreichende Herdenimmunität sind die Kinder in Deutschland partiell geschützt und es ist schwierig, das Ausmaß der Gefährdung eines Kindes bei Verweigerung der Impfung durch die Eltern zu beziffern.

Problematisch ist auch die fehlende Wissenschaftlichkeit und damit Ehrlichkeit der Ärztinnen und Ärzte, die Eltern von Impfungen aktiv abraten oder Impfungen ohne wissenschaftliche Basis „individualisieren“ und damit einer Beliebigkeit aussetzen.

Interessenkonflikte

Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien oder anderen Forschungsvorhaben erhielt die Klinik von W. Rascher Zuwendungen auf ein Drittmittelkonto von Pfizer Vaccines Research, Alexion Pharmac. Inc., USA, Vertex Pharmaceuticals, USA, Novartis und Shire.

Literatur
  1. Bundesgerichtshof Urteil vom 3. Mai 2017 (Az: XII ZB 157/16):http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=78386&pos=0&anz=1
  2. Center for Disease Control and Prevention (CDC): Vaccine preventable deaths and the global immunization vision and strategy, 2006-2015. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2006; 55: 511-515.
  3. Heininger U. Impfungen im ersten Lebensjahr. Monatsschr Kinderheilkd 2017; 165: 308-315.
  4. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut 2016/2017. Epidemiol Bull 2016; 34: 301-340.
  5. Siedler A, Hecht J, Rieck T et al.: Die Varizellenimpfung in Deutschland: Eine Zwischenbilanz mit Blick auf die Masern-Mumps-Röteln-(MMR-)Impfung, Bundesgesundheitsbl 2013; 56: 1313-1320.
  6. Mitteilung der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut: Zur Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen (MMRV), Epidemiol Bull 2011; 38: 352-353.
  7. Spackova M, Muehlen M, Siedler A: Complications of varicella after implementation of routine childhood varicella vaccination in Germany. Pediatr Infect Dis J 2010; 29: 884-886.
  8. Wendorf KA, Winter K, Zipprich J et al.: Subacute Sclerosing Panencephalitis: the devastating measles complication that might be more common than previously estimated. Clin Infect Dis. 2017; 65: 226-232.
  9. Mentzer D, Oberle D, Keller-Stanislawski B: Daten zur Pharmakovigilanz von Impfstoffen aus dem Jahr 2015. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2017; 1: 17-25.