Mondpreise – oder was?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2017

Autor

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Editorials gibt es bei AVP nur bei besonderen Anlässen. Hintergrund sind dieses Mal die Diskussionen um überhöhte Arzneimittelpreise und die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems. AVP betrachtet den therapeutischen Stellenwert von Arzneimitteln und formuliert praxisrelevante Empfehlungen für die ärztliche Behandlungsentscheidung. Kostenaspekte spielten bisher bei AVP eine untergeordnete Rolle. Es scheint, dass dies Geschichte sein muss.

In dieser Ausgabe finden Sie einen Artikel zur Therapie der Hepatitis C. Diese hat sich in kurzer Zeit beträchtlich verbessert – zumindest aus Sicht der von dieser Diagnose betroffenen Menschen und ihrer behandelnden Ärzte. Auch die AkdÄ hat mit ihren Stellungnahmen dazu beigetragen, dass diesen Medikamenten vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein Zusatznutzen zuerkannt wurde.

Unerfreulich dagegen ist die damit verbundene Kostenexplosion. Für das deutsche Gesundheitssystem werden demnächst für Hepatitis-C-Medikamente jährliche Ausgaben von fast zwei Milliarden Euro erwartet. Diese fast obszön erscheinenden Preise übersteigen bei Weitem alles bisher Dagewesene einer Arzneimittel-Neueinführung.

Der RNA-Polymerase-Inhibitor Sofosbuvir wurde 2014 in den EU-Staaten zugelassen. Anfangs vertrieb der Hersteller Gilead die einzelne Tablette für 700 Euro, in den Vereinigten Staaten sogar noch deutlich teurer, weshalb sie den denkwürdigen Beinamen „Thousand Dollar Pill“ erhielt. Nach Verhandlungen mit den Krankenkassen wurde in Deutschland 2015 der Erstattungsbeitrag auf knapp 500 Euro pro Tablette gesenkt. Da aber Sofosbuvir meist mit anderen antiviralen Wirkstoffen kombiniert wird, belastet die dreimonatige Therapie die GKV weiterhin mit über 65.000 Euro.

Selbstverständlich ist Sofosbuvir von Gilead nicht das einzige neu eingeführte Arzneimittel mit nicht nachvollziehbarem Preis. In der Onkologie, bei Multipler Sklerose sowie bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen finden sich zahlreiche Präparate mit exorbitanten Preisen, in der Laienpresse gerne Mondpreise genannt. Mit fünf Milliarden Euro wurde 2015 ein Siebtel der gesamten GKV-Arzneimittelausgaben für Onkologika aufgewendet (1).

Gebetsmühlenartig führen die Pharmakonzerne als Begründung hohe Forschungs- und Entwicklungskosten (F&E) an. Meist unter Berufung auf Publikationen von DiMasi et al. von der Tufts University, der 2003 noch von 800 Millionen Dollar für ein neu entwickeltes Medikament ausging (2), in der Zwischenzeit aber schon bei 1,4 Milliarden Dollar angelangt ist (3).

Dass dies Unsinn ist, ist längst wissenschaftlich belegt:

  • Steuerliche Abschreibungen für erfolglose F&E-Projekte werden nicht berücksichtigt.
  • Marketingmaßnahmen wie Advisory Boards oder Satellitensymposien werden den Entwicklungskosten zugeschlagen.
  • Vorwiegend zur Absatzsteigerung angelegte Anwendungsbeobachtungen werden dem klinischen F&E-Budget zugerechnet.

Am Ende ist es nur ein Bruchteil der behaupteten Kosten, die für F&E tatsächlich aufgewendet werden (4). Wieviel es wirklich ist, weiß niemand, das ist die Crux.

Ohne Zweifel wünschen wir Ärztinnen und Ärzte uns eine gesunde, starke Arzneimittelindustrie, die durch sinnvolle und patientenrelevante Innovationen die therapeutischen Optionen stetig erweitert. Dafür einen fairen Preis zu bezahlen, wird die Versichertengemeinschaft bereit sein. Das setzt aber Transparenz voraus, nämlich was die Entwicklung eines neuen Medikaments wirklich gekostet hat.

Krankenkassen und die Gesundheitspolitik scheinen keine ausreichende Eindämmung zu erreichen. Somit hat nur die Ärzteschaft – durch ihr Verschreibungsverhalten – das Druckmittel in der Hand, die pharmazeutische Industrie zur geforderten Transparenz zu zwingen. Dies ist aber eine stumpfe Waffe, wenn es gar keine Alternativen gibt.

Auch der Versorgungsaspekt ist bedenklich. Aufgrund der Kosten ist in einigen Ländern wie z. B. der Schweiz der Einsatz von Sofosbuvir an Vorgaben wie bereits bestehende Zirrhose gebunden. Was Schweizer Patienten nach Indien treibt, wo die Dreimonatstherapie insgesamt 1000 Euro kostet (5). Nur eine neue, nachvollziehbare Preisgestaltung kann verhindern, dass auch bei uns solche Verhältnisse entstehen.

Ist die Arzneimittelindustrie nicht zu Änderungen bereit, wird sie es schwer haben, ihren längst am Boden liegenden Ruf zu verteidigen. Keine Industriesparte der Welt erreicht die märchenhaften Umsatzrenditen der Pharma-Unternehmen, deren vier Beste es auf 40 bis über 60 Prozent gebracht haben (6). Den geneigten Leser wird es nicht überraschen, wer diese Rangliste anführt – richtig, es ist Gilead...

Mit den besten Wünschen für eine kritische Lektüre dieser Ausgabe von AVP

Ihr Bernd Mühlbauer


Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Ludwig WD, Schwabe U: Onkologika. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2016. Berlin, Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2016; 583-619.
  2. DiMasi JA, Hansen RW, Grabowski HG: The price of innovation: new estimates of drug development costs. J Health Econ 2003; 22: 151-185.
  3. DiMasi JA, Grabowski HG, Hansen RW: Innovation in the pharmaceutical industry: new estimates of R&D costs. J Health Econ 2016; 47: 20-33.
  4. Light DW, Warburton R: Demythologizing the high costs of pharmaceutical research. BioSocieties 2011; 6: 34-50.
  5. Gfrörer K, Kressbach M: Horrende Medi-Preise treiben kranke Schweizer nach Indien:http://www.srf.ch/sendungen/kassensturz-espresso/themen/gesundheit/horrende-medi-preise-treiben-kranke-schweizer-nach-indien
  6. Umsatzrendite der Top 25 Pharmaunternehmen weltweit in den Jahren 2014 und 2015:https://de.statista.com/statistik/daten/studie/471968/umfrage/umsatzrendite-fuehrender-pharmaunternehmen-weltweit/