Arzneimittelwechselwirkungen bei Polypharmakotherapie

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2017

Autorin

Zusammenfassung

Arzneimittelinteraktionen bei Polypharmakotherapie sind häufig und können zu schweren unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen. Es wird ein Überblick über Arzneimittelinteraktionen gegeben, wobei sowohl Hintergrund, Prinzipien und Mechanismen als auch klinische Auswirkungen von Arzneimittelwechselwirkungen dargestellt werden. Aufgeführt sind ausgewählte klinische Beispiele von Wechselwirkungen, die es zu beachten gilt.

Abstract

Drug interactions in patients with multi-drug therapy are common. They can lead to serious adverse drug reactions. This article gives a general overview of interactions by discussing background, mechanism and clinical consequences. Examples of the most important drug interactions are summarised, which are necessarily have to be taken into account.

Hintergrund

Insbesondere ältere, chronisch kranke Patienten nehmen gegen ihre verschiedenen Beschwerden und Krankheiten eine Vielzahl von Medikamenten ein. Ursache hierfür ist die Multimorbidität, worunter man meist das Zusammentreffen von drei oder mehr chronischen Erkrankungen versteht. Aus der Multimorbidität resultiert häufig eine Polypharmazie, die üblicherweise als die gleichzeitige Verordnung von fünf oder mehr verschiedenen Arzneimitteln pro Tag definiert wird. Mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen nimmt am Tag mindestens fünf verschiedene Arzneimittel ein (1;2). Die Multimedikation stellt im Allgemeinen einen Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelwechsel- und Nebenwirkungen dar, die zu Krankenhausaufnahmen und sogar Todesfällen führen können (3;4). Der demographische Wandel bedingt eine Zunahme der Multimorbidität und daraus resultierender Polypharmazie (5). Damit wächst die Gefahr für Arzneimittelwechselwirkungen. Diese können zu schweren unerwünschten Wirkungen oder auch zur Verminderung des therapeutischen Effektes einzelner Arzneimittel führen.

Die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen wächst exponentiell mit der Anzahl der gleichzeitig eingenommenen Arzneimittel und steigt mit dem Alter sowie den Begleiterkrankungen der Patienten (6;7).

Arzneimittelwechselwirkungen

Wird im klinischen Alltag von Arzneimittelwechselwirkungen gesprochen, dann sind oft unerwünschte Wechselwirkungen gemeint, die eine häufige Ursache unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) sind. Andererseits kann man sich Arzneimittelinteraktionen aber auch therapeutisch zunutze machen. Wechselwirkungen werden beispielsweise bewusst bei Vergiftungen im Rahmen der Antidottherapien genutzt. So werden bei einer Morphinintoxikation durch Gabe von Naloxon die Wirkungen von Morphin aufgehoben oder bei einer Glykosidintoxikation Antikörper-Fab-Fragmente zur Bindung und Umverteilung von Digitalisglykosiden eingesetzt. Solche Wechselwirkungen, ob zur Behandlung mit Antidota bei Intoxikationen oder zur Erhöhung der Effektivität von diversen Kombinationstherapien sind erwünscht und werden vielfach genutzt.

Als Arzneimittelwechselwirkung (Interaktion) wird eine Veränderung der Aktivität, der Verfügbarkeit oder des Effektes eines Arzneimittels durch die gleichzeitige Gabe eines anderen Arzneimittels bezeichnet. Arzneimittelwechselwirkungen können zur Wirkungsabschwächung bis zur Wirkungslosigkeit oder Wirkungsverstärkung bis zur Intoxikation führen. Sie können auf unterschiedliche Art und Weise entstehen. Prinzipiell kann man pharmakodynamische von pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen unterscheiden. Davon zu trennen sind pharmazeutische Interaktionen (z. B. Inkompatibilitäten), die im Unterschied zu pharmakokinetischen und -dynamischen Interaktionen ex vivo auftreten.

Pharmakokinetische Wechselwirkungen führen zu Änderungen konzentrationsabhängiger Wirkungen im Gegensatz zu pharmakodynamischen Interaktionen, die zu Wirkungsänderungen führen, ohne dass die Konzentration verändert wurde. Pharmakodynamische Interaktionen können auftreten, wenn Arzneimittel an einem Rezeptor, an einem Erfolgsorgan oder einem Regelkreis synergistisch oder antagonistisch wirken. Solche Interaktionen lassen sich aufgrund der bekannten Wirkungen der Arzneimittel oft gut abschätzen und werden auch therapeutisch bei Kombinations- oder Antidottherapien genutzt.

Pharmakokinetische Wechselwirkungen können alle Ebenen der Pharmakokinetik (Liberation, Absorption, Verteilung und Plasmaeiweißbindung, Metabolismus, Exkretion, Arzneimitteltransport) betreffen. Wechselwirkungen auf der Ebene der Biotransformation sind häufig und können eine große klinische Relevanz haben. Hier kommt den Cytochrom-P450-Enzymen ein großer Stellenwert zu. Über eine Induktion oder Hemmung des Arzneimittelstoffwechsels kann es zu Änderungen des therapeutischen Effektes von Arzneimitteln oder unerwünschten Wirkungen kommen. CYP3A4 ist für Arzneimittelinteraktionen von besonders großer Bedeutung, da etwa die Hälfte der Arzneimittel (zum Beispiel Makrolidantibiotika, Kalziumkanalblocker, Statine [Simvastatin, Atorvastatin, Lovastatin], Antikoagulanzien, Immunsupressiva, HIV-Protease-Inhibitoren etc.) darüber verstoffwechselt werden. Daneben sind aber auch insbesondere CYP2D6-, CYP2C8/9/19- und CYP1A2-Wechselwirkungen bei Interaktionen über Cytochrom-P450-Enzyme (beispielsweise bei Antidepressiva, Antipsychotika) zu beachten. Klassische CYP3A4-Induktoren sind Rifampicin, weniger ausgeprägt Rifabutin, Antiepileptika wie Phenobarbital, Carbamazepin und Phenytoin, Evavirenz sowie Johanniskraut. Insbesondere bei Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite kann es durch CYP-Induktion zu einem Wirkungsverlust mit schweren Folgen kommen. Organabstoßung durch Ciclosporin-Abfall oder Schwangerschaft durch Pillenversagen sind klinisch relevante Beispiele für Interaktionen mit Johanniskraut, vor dem zu warnen ist. Johanniskraut wird oft als Arzneimittel gar nicht wahrgenommen, da es frei verkäuflich ist und im Rahmen der Selbstmedikation häufig eingenommen wird (oft ohne Kenntnis des Arztes). Beispiele für eine Inhibition fremdstoffabbauender Enzyme in der Leber sind Azolantimykotika wie Itra-, Keto- und Posaconazol, Makrolidantibiotika wie Ery-, Clari- und Telithromycin oder Proteaseinhibitoren (CYP3A4-Hemmer). CYP3A4-Wechselwirkungen sind besonders ausgeprägt, da dieses Isoenzym ein sehr breites Substratspektrum aufweist. Eine umfassende Übersicht zu Cytochrom-P450-Substraten, Inhibitoren und Induktoren ist zu finden unter: medicine.iupui.edu/clinpharm/ddis/main-table. CYP3A4-Substrate, CYP3A4-Inhibitoren und -Induktoren sind teilweise mit denen des P-Glykoproteins (Genprodukt des ABCB1-Gens) identisch. P-Glykoprotein ist ein bekannter ABC-Transporter (Effluxtransporter). So sind zum Beispiel Erhöhungen der Digitoxinkonzentration und damit Zunahme der Digitoxintoxizität durch ABCB1-Inhibitoren wie Amiodaron, Chinidin, Spironolacton oder Verapamil erklärbar.

Arzneimittel mit hohem Interaktionspotenzial und geringer therapeutischer Breite wie Antikoagulanzien, Herzglykoside, Antiarrhythmika, Immunsuppressiva, Antidiabetika, Statine oder Zytostatika beherbergen ein besonderes Risiko für schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Blutungen, Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen, Hypoglykämien, Rhabdomyolysen oder Hämato- und Neurotoxizitäten. Tabelle 1 zeigt eine Auswahl verschiedener zu vermeidender Risiken durch Arzneimittelinteraktionen. Ausgewählt sind Bespiele von häufigen, klinisch relevanten Interaktionen, die es zu beachten gilt. Die Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie beinhaltet lediglich eine Auswahl häufiger und praktisch wichtiger Interaktionsprobleme.

Tabelle 1: Ausgewählte relevante Risiken aufgrund von Arzneimittelinteraktionen (nach (2;8-15))


Ca. 5,3 % (0,16–15,5 %) aller Krankenhausaufnahmen sind UAW-assoziiert (6). Höhere Prävalenzraten (ca. 11 %) werden bei älteren Patienten mit Multimorbidität und Multimedikation beschrieben (16;17). Oft werden diese medikamentös bedingten Hospitalisierungen durch Wechselwirkungen verursacht. Daten aus Deutschland zeigen 12,4 % stationäre Aufnahmen in Kliniken für Innere Medizin wegen Phenprocoumon-assoziierter UAW, davon 85 % gastrointestinale Blutungen. Bei einem Drittel der Patienten waren Wechselwirkungen mit Thrombozytenaggegationshemmern und nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) der Grund dafür (18).

Neben den wechselwirkungsbedingten Blutungen sind Hyperkaliämien durch ACE-Hemmer plus Aldosteronantagonisten oder Kaliumpräparate, Nierenfunktionsstörungen durch NSAR plus ACE-Hemmer oder Myopathien durch Wechselwirkungen von Simvastatin/Atorvastatin plus CYP3A4-Inhibitoren ausgewählte Beispiele für häufig auftretende unerwünschte Arzneimittelwirkungen, denen pharmakokinetische oder pharmakodynamische Mechanismen zugrunde liegen und die dem praktisch tätigen Arzt bekannt sein sollten.

Hypertonie, Lipidstoffwechselstörungen, chronische Kreuzschmerzen, Diabetes mellitus, Arthrosen und KHK gehören zu den sechs höchstprävalenten chronischen Krankheiten bei multimorbiden, älteren Patienten (19). Hier zum Einsatz kommende Arzneimittel können ein voran beschriebenes Interaktionspotenzial beherbergen, das bei der täglichen Verordnung von Arzneimitteln zu beachten ist.

Darüber hinaus ist der Patient explizit über mögliche Interaktionsgefahren durch eine Selbstmedikation aufzuklären. Insbesondere auf Johanniskraut oder auch nicht verschreibungspflichtige Analgetika (NSAR) ist hinzuweisen. Auch sehr hohe Mengen von Grapefruitsaft (intestinale CYP3A4-Hemmung), hoher/chronischer Alkoholkonsum (CYP2E1-Induktion) und starkes Rauchen (CYP1A2-Induktion) können zu Wechselwirkungen mit Arzneimitteln führen.

Eine wichtige Informationsquelle für relevante Arzneimittelwechselwirkungen sind die Fachinformationen der Arzneimittelhersteller (www.fachinfo.de). Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Datenbanken und elektronischen Programmen zur Überprüfung von Arzneimittelwechselwirkungen, die frei oder kostenpflichtig für eine Interaktionsrecherche zugänglich sind. Diese können hilfreich sein und den Arzt unterstützen. Ein klinisch-pharmakologisches Grundwissen ersetzen sie jedoch nicht.

Fazit für die Praxis

Multimorbidität und Polypharmazie stellen prinzipiell eine mögliche Gefahr für unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen dar, die teilweise vermeidbar sind. Kenntnisse über Prinzipien von pharmakodynamischen und -kinetischen Interaktionen sind von besonderer Bedeutung. Ärzte sollten für ihre hauptsächlich verordneten Arzneimittel die wichtigsten und potenziell gefährlichen Interaktionen kennen und beachten.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.

Literatur
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