Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM) nach Schutzimpfungen?
Zusammenfassung
Ein 30-jähriger Patient wurde gegen Hepatitis A und B (Twinrix®), Tollwut (Rabipur®), Cholera (Dukoral®) und Typhus (Typhim Vi®) geimpft. Zehn Wochen später trat eine akute demyelinisierende Enzephalomyelitis auf. In der Zusammenschau der Befunde spricht mehr gegen als für einen Zusammenhang zwischen Impfung und ADEM.
Abstract
A 30 year old patient was immunised against hepatitis A and B (Twinrix®), rabies (Rabipur®), cholera (Dukoral®) and typhoid (Typhim Vi®). Ten weeks later the patient contracted an acute demyelinating encephalomyelitis (ADEM). In summary there are more arguments to the contrary than in favour of a causal relationship of the immunisation.
Einleitung
Impfkomplikationen werden im zunehmenden Maße gemeldet. Definitionsgemäß ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion herausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch Schutzimpfungen (Infektionsschutzgesetz 2001, § 2) (1). Die üblichen Impfreaktionen sind in den Anhaltspunkten für ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (BMGS 2005) aufgeführt (2). Der Verdacht auf Impfschäden wird nach Meldung über Amtsarzt oder andere Institutionen (z. B. AkdÄ) in jedem Fall dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) dokumentiert. Die Anerkennung eines Impfschadens mit Entschädigungspflicht ist in vielen Fällen schwierig. Dies soll anhand eines konkreten Falles dargestellt werden.
Kasuistik
Ein 30-jähriger Techniker unterzog sich zwischen 4. Mai und 1. Juni 2015 insgesamt acht Schutzimpfungen mit vier Impfstoffen gegen folgende fünf Krankheiten: Hepatitis A und B (Twinrix®), Tollwut (Rabipur®), Cholera (Dukoral®) und Typhus (Typhim Vi®). Er bereitete sich damit auf eine Fahrt nach Südostasien vor. Ab dem 18. Mai traten für etwa fünf Tage Symptome einer Gastroduodenitis mit Übelkeit, aber auch Kopfschmerzen und Atemnot auf. Trotzdem nahm der Patient an der Reise vom 2. bis 17. Juli 2015 teil. Während dieser Zeit hatte sich sein Befinden wieder verschlechtert. Deshalb nahm er das von seiner Betriebsärztin verordnete Antimalariamittel Malarone® (Proguanil und Atovaquon) über zwölf Tage ein. Auch nach der Rückkehr fühlte er sich nicht wohl; der Hausarzt gab ihm daraufhin Ibuprofen.
Am 18. August 2015 fiel morgens ein atypisches Verhalten („Wesensänderung“) auf mit psychomotorischer Unruhe, Nesteln, Bewegungsiterationen und dysphonem Sprechen. Es bestanden eine generalisierte Erhöhung des Muskeltonus, positives Babinski-Zeichen sowie vegetative Entgleisungen mit Tachykardie, Schwitzen und Anstieg des Blutdrucks. Das initiale CT des Kopfes war regelrecht. Im Liquor fand sich eine geringe Pleozytose (7 c/µl), aber keine lokale Immunglobulinsynthese; die üblichen viralen Antikörperindices lagen im Normbereich. Antikörper gegen Treponemen, Borrelien und Leptospiren sowie das Auramin-Färbepräparat waren negativ, PCR für HIV, JC-Virus und HSV ebenfalls – lediglich in der indirekten Immunfluoreszenz (IIF) ließ sich ein schwach positiver Titer gegen Plasmodium malariae nachweisen. Der „Dicke Tropfen“ und ein „Malariaschnelltest“ waren negativ. Ebenfalls negativ waren Untersuchungen auf Japanische Enzephalitis und Rickettsiosen. Ein Drug Screening auf Cannabis war positiv.
Im weiteren Verlauf wurde der Patient beatmungsbedürftig mit Tracheotomie am 25. August 2015. Er entwickelt Myoklonien, die kaum zu unterbrechen waren. Sedation und Antibiotikagabe (u. a. Meropenem) wegen Infektionen waren im Verlauf erforderlich. Am 1. September 2015 war ein Aufwachversuch erfolgreich. Klinische Befunde, Liquor und MRT führten schließlich zur Diagnose ADEM (akute disseminierte Enzephalomyelitis). Der Patient wurde mit Kortikosteroiden und dann mittels Plasmapherese behandelt.
Am 23. September 2015 verlegte man ihn, noch tetraparetisch, in eine andere Fachklinik, wo er bis zum 2. Oktober 2015 verblieb. Anschließend sollte er zur Frührehabilitation. Als Entlassungsdiagnose wurde „V. a. postvakzinale disseminierte Enzephalomyelitis“ angegeben. In einem Schreiben der Eltern an das PEI berichteten diese noch im Oktober 2015, der Zustand des Patienten sei anhaltend schlecht. Er könne nicht sprechen, nicht essen und sich nicht bewegen. Der weitere Verlauf ist unbekannt.
Bewertung
Die ADEM ist eine akute monophasische demyelinisierende Erkrankung mit Beteiligung von Gehirn und Rückenmark, die auf der Basis einer Autoimmunreaktion entsteht. Die Symptomatik ist vielfältig, kann aber bis zu Tetraparese und Koma reichen. Diagnostische Untersuchungen sind MRT, Liquor und gegebenenfalls Hirnbiopsie. Im MRT sieht man disseminierte Entmarkungsherde, die im Gegensatz zur Multiplen Sklerose auch Stammganglien (und Kortex) einbeziehen und entsprechende Symptome verursachen können. Als Ursachen kommen am häufigsten Infektionen, seltener molekulare Substanzen mit Haptenwirkung und Impfungen infrage. Die Therapie besteht aus Kortikosteroiden, Plasmapherese oder intravenösen Immunglobulinen sowie aus symptomatischen Maßnahmen (3).
Für die Impfstoffe Twinrix®, Rabipur® und Dukoral® sind Enzephalitiden, Enzephalopathien und auch eine ADEM als Komplikationen in der jeweiligen Fachinformation angegeben. Dabei ist nicht klar definiert, ob diese Angaben auf Verdacht oder verifizierte Fälle zurückgehen. Das Auftreten einer ADEM ist jedenfalls denkbar. Die Zeitspanne bei dem Patienten zwischen 1. Juni (letzte Schutzimpfung) und 18. August (akutes Auftreten der ADEM) erscheint mit ca. zehn Wochen ungewöhnlich lang. Allerdings soll laut WHO (4) ein erhöhtes Risiko für das ebenfalls immunpathogenetisch begründete Guillain-Barré-Syndrom nach HPV-Vakzination über drei Monate bestehen – wobei sich auch hier die Frage ergibt, ob diese Zeitspanne evidenzbasiert ist. In Bezug auf den zeitlichen Abstand zwischen Vakzination und Krankheitsmanifestation ist jedenfalls die Kausalität im hier dargestellten Fall wenig wahrscheinlich.
Zu der Frage, ob die Verabreichung verschiedener Vakzine im kurzen zeitlichen Abstand, nämlich vom 4. Mai bis 1. Juni 2015, ein erhöhtes Risiko auf Impfschäden in sich trägt, ist ebenfalls von der WHO Stellung genommen werden: Es gibt keine Hinweise dafür, dass dies der Fall ist (5).
Es stellt sich natürlich die Frage, ob bei unserem Patienten andere mögliche Ursachen einer ADEM vorgelegen haben könnten:
- Es fand sich ein positiver Nachweis von Cannabis im Blut bzw. im Urin. Obwohl Cannabinoide eher immunsuppressiv wirken (6), liegt auch ein Bericht über eine Entmarkungsenzephalitis nach Cannabiskonsum vor (7).
- Es zeigte sich eine schwach positive Seroreaktion auf Plasmodium malariae. Eine ADEM wurde bei Malaria tropica (durch Plasmodium falciparum) und bei Malaria tertiana (durch Plasmodium vivax) beschrieben (8) – nicht jedoch bei Malaria quartana durch Plasmodium malariae. Es ist kein Anhalt dafür vorhanden, dass während der Reise eine Malaria durchgemacht wurde – zumindest zeitweilig erfolgte auch eine Malariaprophylaxe – und Antikörper gegen P. falciparum oder P. vivax, die bei durchgemachter Malaria tropica bzw. tertiana zu erwarten gewesen wären, sind nicht dokumentiert.
- Es erfolgten keine serologischen Untersuchungen auf ein durchgemachtes Denguefieber, welches mit einer ADEM assoziiert sein kann – allerdings kommt dies nur äußerst selten vor (9). Es gibt klinisch keine Hinweise darauf, dass während der Südostasienreise ein Denguefieber durchgemacht wurde (z. B. kein Exanthem, keine Gelenkschmerzen), allerdings kann die Klinik auch atypisch sein.
- Vor der stationären Aufnahme am 16. August war vorher vom 4. August bis zum 14. August eine grippale Symptomatik mit Pharyngitis, Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber aufgetreten. Eine Influenza (nach Thailand-Aufenthalt, dort ganzjährige Saison) ist nicht ganz sicher auszuschließen und käme als Ursache eines ADEM auch infrage. Auf jeden Fall hat zu diesem Zeitpunkt ein interkurrenter Infekt vorgelegen.
Es besteht somit bei dem hier referierten Patienten eine konkurrierende Ursachenkonstellation, was die Zuordnung der ADEM zu einem bestimmten kausalen Ereignis besonders schwer macht. Legt man die WHO-Kriterien (März 2013) (10) für die Kausalität eines Impfschadens zugrunde legen, ergibt sich das Folgende:
- Zeitlicher Zusammenhang: Nach Tenembaum et al. (2007) (11) tritt eine ADEM in einer Zeitspanne zwischen zwei Tagen und vier Wochen nach einer Antigenexposition auf. Dies trifft hier nicht zu.
- Nachweis, dass die Vakzine die beschriebene UAW erzeugen kann: Dies trifft für die verwendeten Impfstoffe mit Ausnahme von Typhim Vi® zu (12;13).
- Populationsbasierte Evidenz für die Kausalität. Diese ist nach unserem Kenntnisstand nicht gegeben. Es gibt diesbezüglich auch kein Signal für die genannten Impfstoffe.
- Die biologische Plausibilität ist für die verwendeten Impfstoffe grundsätzlich gegeben, auch wenn die molekularen Wirkungsmechanismen mehrheitlich nicht geklärt sind.
- Ausschluss alternativer Erklärungen für die beschriebene UAW: Dieser ist bei unserem Fall nicht gegeben. Zumindest theoretisch hätten eine durchgemachte Influenza, eine andere Infektion oder der Cannabiskonsum gleiches bewirken können.
- Vorerfahrungen und „Re-Challenge“ sind weder allgemein noch individuell bei dem Patienten in dieser Form vorhanden; also fällt dieses Kriterium weg.
Im sozialen Entschädigungsrecht wird für die stattgehabte Schutzimpfung als Ursache der Schädigung ein Vollbeweis gefordert („anspruchbegründende Kausalität“). Für den Nachweis der Impffolgeschädigung („anspruchausfüllende Kausalität“) ist es ausreichend, dass mehr für als gegen die Ursächlichkeit der Schutzimpfung spricht. In der Zusammenschau vorgenannter Kriterien spricht bei dem hier präsentierten Krankheitsfall mehr gegen als für eine kausale Beziehung zwischen den Schutzimpfungen und dem Auftreten der ADEM.
Fazit für die Praxis
Tritt eine ADEM auf, sollte in der Vorgeschichte auch nach länger zurückliegenden Impfungen (bis zu drei Monaten) geforscht werden. Verdachtsfälle sollten dem PEI entweder direkt gemeldet werden oder über den Amtsarzt bzw. an die AkdÄ unter: www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/UAW-Meldung/.
Interessenkonflikte
Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.
Literatur
- Höffler D: Ibuprofen antagonisiert die Gerinnungshemmung von ASS. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2002; 29 (3): 15.
- Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht. Bonn: BMGS, 2005.
- Weber F: Postinfektiöse und postvakzinale ZNS-Erkrankungen. In: Prange H, Bitch H (Hrsg.). Infektionskrankheiten des Zentralnervensystems. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2001; 169-183.
- Global Advisory Committee on Vaccine Safety, 2-3 December 2015. Wkly Epidemiol Rec 2016; 91: 21-31.
- World Health Organization: What are some of the myths – and facts – about vaccination? Myth 6:http://www.who.int/features/qa/84/en/
- Kozela E, Juknat A, Kaushansky N et al.: Cannabinoids decrease the th17 inflammatory autoimmune phenotype. J Neuroimmune Pharmacol 2013; 8: 1265-1276.
- Vadala SF, Pellegrini D, Silva ED et al.: [Lethargic encephalitis. Report of one case]. Rev Med Chil 2013; 141: 531-534.
- Sidhu J, Maheshwari A, Gupta R, Devgan V: Acute Disseminated Encephalomyelitis After Plasmodium Vivax Infection: Case Report and Review of Literature. Pediatr Rep 2015; 7: 5859.
- Gupta M, Nayak R, Khwaja GA, Chowdhury D: Acute disseminated encephalomyelitis associated with dengue infection: a case report with literature review. J Neurol Sci 2013; 335: 216-218.
- World Health Organization (Hrsg.): Causality assessment of an adverse event following immunization (AEFI). User manual for the revised WHO classification. Genf: WHO Press, 2013.
- Tenembaum S, Chitnis T, Ness J et al.: Acute disseminated encephalomyelitis. Neurology 2007; 68: S23-36.
- Kumar R, Singh AK, Pradhan RN, Pathak VK: A Case Report of Post Rabipur (Purified Chick Embryo Rabies Vaccine) Acute Disseminated Encephalomyelitis. J Assoc Physicians India 2015; 63: 56-58.
- Gentile A, Caruso C: [Case of leukoencephalomyelitis due to anticholera vaccine]. Acta Neurol (Napoli) 1974; 29: 516-519.