Arzneimittelinnovationen: Nutzen, Schaden, Profit – Bericht über die Jubiläumsveranstaltung aus Anlass des 50. Jahrgangs DER ARZNEIMITTELBRIEF

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 1/2017

Autoren

Zusammenfassung

Wir berichten über das Symposium zum 50-jährigen Bestehen der pharmaunabhängigen Arzneimittelzeitschrift „Der Arzneimittelbrief“: Arzneimittelinnovationen: Nutzen, Schaden, Profit.

Abstract

We report on the symposium on the occasion of the 50th anniversary of the independent drug bulletin „Der Arzneimittelbrief“: Innovation in drugs: benefit, damage, profit.

Einleitung

1967 gründeten Herbert Herxheimer, Manfred Schwab und H. W. Spier den Arzneimittelbrief. Herbert Herxheimer war der Vater von Andrew Herxheimer, der wenige Jahre zuvor eine unabhängige Arzneimittelzeitschrift in England gegründet hatte, das bis heute erscheinende „Drug and Therapeutics Bulletin“.

In Deutschland gibt es vier von der pharmazeutischen Industrie unabhängige Arzneimittelzeitschriften: den Arzneimittelbrief (AMB), das arznei-telegramm (a-t), den BUKO Pharma-Brief und Arzneiverordnungen in der Praxis (AVP). Gemeinsam gehören sie der internationalen Vereinigung pharmaunabhängiger Arzneimittelzeitschriften an (International Society of Drug Bulletins, ISDB). Als Erweiterung ist inzwischen mit „Gute Pillen schlechte Pillen“ eine fünfte Zeitschrift entstanden, die unabhängige Informationen für Patienten liefert.

Zur Feier seines 50. Jahrgangs veranstaltete der Arzneimittelbrief ein Symposium in Berlin

Die Redaktion der AVP hat nachfolgend Auszüge dieser Veranstaltung zusammengestellt, die mit unseren eigenen Intentionen übereinstimmen.

Auf dem Symposium berichtete Dietrich von Herrath, einer der Herausgeber, in einem launigen Vortrag, warum die Zeitschrift gegründet wurde. In der Einführung zur 1. Auflage im Januar 1967 stand dazu: „Damit beabsichtigen wir, den Ärzten zu helfen, sich ein Urteil über neue Arzneimittel zu bilden und das besser Geeignete vom weniger Gesicherten zu unterscheiden.“

Erstes Motiv war, bei der zunehmenden Flut von Arzneimitteln die Auswahl zu erleichtern. Die Schwierigkeit bestand damals darin, sich Originalpublikationen zu beschaffen. Heute muss man eher unter einer Vielzahl von Artikeln diejenigen auswählen, die wirklich relevant und verlässlich sind. Außerdem sollte die Einflussnahme der pharmazeutischen Industrie auf das Verordnungsverhalten der Ärzte begrenzt werden. Eine rationale Arzneimitteltherapie wollte man fördern, die nach heutigem Verständnis Evidenz basiert sein sollte. Im Prinzip hat sich an diesen Grundsätzen bis zum heutigen Tage nichts geändert.

Weiter ging von Herrath auf Interessenkonflikte in der Medizin ein, die sich aus Verbindungen zur pharmazeutischen Industrie ergeben können. Hier findet ganz langsam ein Umdenken statt, obwohl auf diesem Gebiet sicher noch viel zu tun bleibt. Auch das „disease mongering“, also das Erfinden von Krankheiten, beleuchtete er kritisch.

Eine frühe gerichtliche Auseinandersetzung des Arzneimittelbriefes gegen die Firma Merck ging verloren: Ein Vitamin-B12-Präparat wurde mit der Versprechung beworben, es würde gegen Schulmüdigkeit helfen. Damals konnte die pharmazeutische Industrie erfolgreich vor Gericht argumentieren, dass ja eine positive Wirkung nicht ausgeschlossen sei.

Jochen Schuler, der Mitherausgeber der österreichischen Ausgabe des Arzneimittelbriefes berichtete in seinem Beitrag über Marketing Strategien der Pharmafirmen. Er zeigte dabei zu Beginn eine Grafik aus der Washington Post von 2015. Mit Ausnahme einer einzigen Pharmafirma überstiegen bei allen die Kosten für Verkauf und Marketing die für Forschung und Entwicklung, teilweise sogar um ein Vielfaches. Aber auch die Forschung selber wird als Marketinginstrument verwendet, da der größte Teil der Studien von Pharmafirmen gesponsert wird und damit direkt abhängig ist. Die öffentliche Hand oder Krankenkassen spielen bei der Förderung von Untersuchungen nur eine untergeordnete Rolle. In der EU sind 70 % der Studien aus dem privatwirtschaftlichen Sektor und nur 30 % öffentlich finanziert. Bei jeder durch die Industrie geförderten Studie besteht die Gefahr, dass Datenerhebung und Auswertung durch die Interessen des Sponsors geprägt sind. Solche Untersuchungen kommen viel häufiger zu einem günstigen Ergebnis (ca. 50 %) als Studien, die von unabhängigen Stellen wie zum Beispiel den National Institutes of Health (ca. 20 %) gefördert werden.

Eine weitere Möglichkeit, die Verordnung eines neuen Medikaments zu fördern, sind sogenannte „seeding trials“ (Anwendungsbeobachtungen): Dabei werden bereits zugelassene Arzneimittel unter „Alltagsbedingungen“ beforscht. Diese Studien werden praktisch nie publiziert und sind in der Regel wissenschaftlich wertlos. Die teilnehmenden Ärzte erhalten eine Aufwandsentschädigung, die Studien dienen allein der Absatzsteigerung und der Datensammlung des ärztlichen Verordnungsverhaltens.

Wie Forschungsergebnisse bekannt gemacht werden, ist ebenfalls Teil des Marketingprozesses. Publikationen werden im Vorhinein genau geplant, Autoren und Journals ausgewählt, die Informationen am besten verbreiten. Meinungsführer („key opinion leaders“) , die die Nachricht weiter unter die Ärzte bringen sollen, werden gezielt angesprochen.

Spezialisierte Unternehmen beraten Pharmafirmen, wie ihre Ziele in welchen Zeitschriften am besten zu erreichen sind.

Am Beispiel der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI = „selective serotonin reuptake inhibitors“ aus der Gruppe der Antidepressiva) wird gezeigt, dass von insgesamt 74 Studien, die über diese Antidepressiva durchgeführt wurden, 97 % aller Studien mit positivem Ergebnis veröffentlicht wurden, während 95 % aller Negativ-Studien nie das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Dies betrifft 27 % aller behandelten Studienpatienten, über die so in der Literatur keine Ergebnisse verfügbar sind. Jochen Schuler zitiert Ioannidis (1): „Der Kardinalfehler ist, dass man der Industrie die Beweisführung für den Wert ihrer eigenen Produkte überlässt. Dies führt zwangsläufig dazu, dass die Studien oft sehr tendenziell sind und mehr dem Zweck der Produktwerbung als der Wahrheitsfindung dienen.“

Er beschreibt ebenfalls den Wert kostenloser Mahlzeiten durch Pharmafirmen auf das Verordnungsverhalten von Ärzten: Obwohl der mittlere Wert dieser Mahlzeiten unter 20 Dollar lag, wurde dadurch die Verordnungsrate einzelner Medikamente teilweise verdoppelt. Nicht immer kann der Einfluss der Werbung auf das ärztliche Verschreibungsverhalten so gut nachgewiesen werden, er ist aber vermutlich erheblich (Anmerkung der Redaktion: Dieser Zusammenhang ist auch namensgebend für die Ärzteinitiativen “No free lunch“ bzw. MEZIS („Mein Essen zahl‘ ich selbst“).

Beate Wieseler vom IQWIG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) berichtete über den Nutzen unabhängiger Informationen aus der frühen Nutzenbewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Bei 147 bis zum Oktober dieses Jahres vorgenommenen Bewertungen wurde bei 56 % der Arzneimittel kein Zusatznutzen festgestellt. Insbesondere sieht sie als wesentlichen Fortschritt, dass in diesem Verfahren Studienberichte und Zulassungsunterlagen vom IQWIG angefordert werden können. Sie nennt dafür zwei Beispiele:

In der Originalpublikation zu Linagliptin im Lancet (2) wurde im Vergleich zu Sulfonylharnstoffen festgestellt, dass bei vergleichbarer Reduktion des HbA1c deutlich weniger Hypoglykämien aufgetreten seien. Dabei fällt auf, dass in der Publikation nur 504 Patienten verzeichnet sind, fordert man den Originalstudienbericht an, ist plötzlich von 1519 Patienten die Rede. Außerdem wurde für Linagliptin eine feste Dosis gewählt, während das Vergleichspräparat, ein Sulfonylharnstoff, anfangs nach Wirkung titriert wurde. Die deutlich höhere Rate an Hypoglykämien trat aber im Wesentlichen in diesen ersten Studienwochen auf. Später ist dieser Unterschied nicht mehr nachweisbar. Hätte man nur der Originalpublikation geglaubt und nicht die Originalstudiendaten angefordert, wäre man diesem „Aufhübschen“ der Ergebnisse niemals auf die Spur gekommen. In einer Publikation von Köhler (3) im British Medical Journal wird dieser Informationsgewinn durch das AMNOG auch sehr anschaulich grafisch dargestellt.

Ein weiteres Beispiel ist Regorafenib: Hier wurde vom IQWIG bemängelt, dass zwar Daten zur Lebensqualität in der Zulassungsstudie erhoben, diese aber im Dossier nicht angemessen berücksichtigt wurden. Über zwei Jahre seien diese Daten und deren Auswertung immer wieder angefordert worden, schließlich sei eine Auswertung zugeschickt worden, in der statistischen Auswertung durch das IQWIG kamen jedoch deutlich andere Ergebnisse heraus.

Ein negatives Beispiel für verloren gegangene Transparenz kommt aus Großbritannien: Beim NICE (National Institute for Health and Care Excellence) müssen unter bestimmten Bedingungen Ergebnisse von Studien, teilweise ganze Tabellen, geschwärzt werden. Aus diesen Studienunterlagen ist praktisch nichts mehr herauszulesen.

Software-Firmen haben sich angeboten, die Tabellenerstellung für das AMNOG-Dossier im Sinne der pharmazeutischen Industrie zu automatisieren. Das beworbene „P-Value Cockpit“ soll es ermöglichen, sehr übersichtlich alle für die „value-story“, also die Sicht des Herstellers, wesentlichen Daten und Informationen auf einen Blick zu bewerten. Verschiedene Verfahren – unter anderem ein sogenanntes „re-fishing“ – sollen es ermöglichen, positive Ergebnisse herauszuarbeiten, welche so bislang dem Unternehmer selbst nicht bekannt waren.

In Diskussionsbeiträgen von Teilnehmern des AMB-Symposiums aus Italien und Frankreich wird betont, wie sehr uns andere europäische Länder um die Möglichkeit der frühen Nutzenbewertung und die Möglichkeit zur Anforderung von Studienunterlagen beneiden.

Gianni Tognoni aus Mailand vom Pharmakologischen Institut Mario Negri trug vor, wie schwer es ist, wissenschaftliche Studien gegen gefährliche oder nutzlose Medikamente durchzuführen, da sich nur selten ein Sponsor hierfür findet. Ist eine solche Studie dann doch einmal durchgeführt, ist es schwer, sie zur Publikation zu bringen, da fast alle Journals lieber über positive Ergebnisse berichten.

Christophe Kopp, Allgemeinmediziner aus Paris, berichtet als Herausgeber über die wohl weltweit größte internationale pharmaunabhängige Arzneimittelzeitschrift „La Revue Prescrire“. Diese erscheint mittlerweile gekürzt auch in einer ins Englische übersetzten Fassung. Ca. 130 Redaktionsmitglieder erstellen Beiträge über praktisch jedes neu in Frankreich zugelassene Arzneimittel. Die Verbreitung ist riesig: 20–30 % aller zugelassenen Ärzte in Frankreich und ein nur unerheblich kleinerer Anteil an Apothekern beziehen diese Zeitschrift. C. Kopp betonte immer wieder, wie wichtig der Wert von Beiträgen ist, die ohne Interessenkonflikte entstehen. Außerdem versucht die Zeitung auch, aktiv in Brüssel Lobbyarbeit zu betreiben, um bestimmte negative Tendenzen zu beeinflussen. Aktuelles Beispiel ist „adaptive pathways“ – ein Mechanismus der beschleunigten Medikamentenbewertung, bei dem Medikamente ohne ausreichende Evidenz zugelassen werden können.

Wolf-Dieter Ludwig als Vorsitzender der AkdÄ und Mitherausgeber definiert in seinem Vortrag Aufgaben und Ziele in der Zukunft: Bei neuen Arzneimitteln dominieren Spezialpräparate, beschleunigte Verfahren zur Zulassung werden von der Arzneimittelindustrie angestrebt und teilweise schon durchgeführt, bei Leitlinien gibt es eine Vielzahl von Interessenkonflikten und bei neuen Wirkstoffen eine Explosion der Kosten. Dies sind genug wichtige Gründe, um pharmaunabhängige Arzneimittelzeitschriften weiterzuführen.

Er verweist auf einen einfachen Parameter für die Unabhängigkeit von Leitlinien, nämlich den Anteil an Autoren, die ohne Interessenkonflikt sind.

Ein Großteil der aktuellen Zulassung kostenträchtiger Medikamente betrifft Onkologika. Um die Preise hier eindämmen zu können, ist es notwendig, nicht nur Nutzen und Risiko der Medikamente zu vergleichen, sondern auch ihren Wert für individuelle Patienten bzw. das Gesundheitssystem insgesamt zu beurteilen.

Fazit

Ein kritisches Gegengewicht zu den durch die Pharmaindustrie gesteuerten Beurteilungen von neuen Arzneimitteln ist heute wichtiger denn je. Unabhängige Informationen werden dazu von AMB, a-t, BUKO Pharma-Brief und AVP erstellt und verbreitet. Ein Schwerpunkt der AVP sind neben der kritischen Bewertung positive Empfehlungen zu einer rationalen Therapie.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von den Autoren verneint.

Literatur
  1. Ioannidis JP: Evidence-based medicine has been hijacked: a report to David Sackett. J Clin Epidemiol 2016; 73: 82-86.
  2. Gallwitz B, Rosenstock J, Rauch T et al.: 2-year efficacy and safety of linagliptin compared with glimepiride in patients with type 2 diabetes inadequately controlled on metformin: a randomised, double-blind, non-inferiority trial. Lancet 2012; 380: 475-483.
  3. Kohler M, Haag S, Biester K et al.: Information on new drugs at market entry: retrospective analysis of health technology assessment reports versus regulatory reports, journal publications, and registry reports. BMJ 2015; 350: h796.