Kamptokormie unter Rotigotin
Zusammenfassung
Fallbericht über einen Parkinson-Patienten, bei dem eine Kamptokormie auftrat, die wahrscheinlich durch eine erneute Behandlung mit Rotigotin ausgelöst wurde.
Abstract
Case report of a parkinson’s patient with camptocormia probably caused by a newly initiated therapy with rotigotin.
Rotigotin ist ein Non-Ergot-Derivat und wird den Dopaminrezeptoragonisten zugeordnet. Die Substanz ist ein selektiver D2- und D3-Rezeptoragonist. Sie wird bei Parkinson-Patienten als transdermales Pflaster einmal täglich appliziert. Über einen Zeitraum von 24 Stunden wird der Wirkstoff kontinuierlich freigesetzt. Diese durchgehende Stimulation ermöglicht konstantere Wirkspiegel. Durch die Medikation sollen Dyskinesien abgeschwächt und eine Verbesserung der Bewegungsabläufe erreicht werden. Dopamin wirkt bekanntlich auch auf die Prolaktinsekretion in der Hypophyse im Sinne einer Hemmung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird Rotigotin im frühen Stadium des Parkinson-Syndroms als Monotherapeutikum verwendet − in späteren Stadien in Kombination mit L-Dopa (1).
Rotigotin wurde 2014 in 5,3 Mio DDD eingesetzt, dies bedeutet eine Steigerung von 9,4 % gegenüber dem Vorjahr (2).
Der AkdÄ wurde der Fall eines 68-jährigen Mannes geschildert – früher Diplom-Ingenieur und Marathonläufer − der im Alter von 60 Jahren Bewegungsstörungen entwickelte, die sich zunächst linksseitig in einem Tremor und reduzierter Beweglichkeit geäußert hätten. In einem 4/2008 durchgeführten sogenannten DAT-Scan (Verfügbarkeit von Dopamintransporter in den Stammganglien) ließ sich die Diagnose einer (idiopathischen) Parkinson-Erkrankung sichern. Der Vater hatte im höheren Alter auch an Parkinsonismus gelitten. Die „Dopaminersatztherapie“ mit Rotigotin und Rasagilin habe dann vor allem eine subjektive Besserung erbracht.
In einer Rehabilitationsbehandlung 8/2013 wurde das Gangbild des Patienten als „im Innen- und Außenbereich deutlich flüssiger“ beschrieben. Die damalige Medikation bestand in Rotigotin 14 mg/d und Rasagilin 1 mg/d und L-Dopa 200 mg/d. Bei einer erneuten Reha 10/2014 wurde Rotigotin auf eine Höchstdosis von 16 mg/d erhöht. Im Januar 2015 wurde nach einem Sturz eine LWK 1 Fraktur festgestellt, die konservativ behandelt wurde. Am 25.01.2015 erlitt der Patient im Gehen plötzlich starke Schmerzen und konnte nicht mehr gehen. Im weiteren Verlauf zeigte sich dann ein knöcherner Abriss des ventralen Os ilium von der Spina iliaca anterior superior bis zur Spina iliaca anterior inferior mit Dislokation des Fragments nach ventral. Etwas später sei das Gangbild immer krummer und vorgebeugter geworden – und dies innerhalb weniger Tage. Zweimal sei es zu Zuständen des „Einfrierens“ beim Losgehen gekommen.
Bei einer weiteren Rehabehandlung war der Patient auf Azilect® (Rasagilin) 1 mg, Isicon® 100/25 (Levodopa/Carbdopa) viermal/d, Amantadin 100 zweimal/d und Neupro®(Rotigotin)-Pflaster, zweimal 6 mg/d eingestellt gewesen. Klinisch imponierte ein mittelschwer ausgeprägtes Parkinson-Syndrom vom akinetisch-rigiden Typ mit anteflektierter Rumpfhaltung und beeinträchtigten posturalen Reflexen. Von Kamptokormie expressis verbis war noch nicht die Rede, obwohl die Beschreibung des eurologischen Status darauf hindeutet.
In einem weiteren Bericht wird dann eine Rumpfvorwärtsneigung im Sinne einer Kamptokormie erwähnt. Letztere habe sich innerhalb von zwei Tagen entwickelt. Spätestens nach 20-minütigem Gehen beuge sich der Rumpf derartig vor, dass er nichts mehr tragen könne. Ein Zusammenhang mit einer Medikation ist laut diesem Bericht nicht erkennbar. Erwähnt wird noch eine Blasenstörung mit Drangsymptomatik. Empfohlen wurde Absetzen von Neupro® und Erhöhung von Stalevo® (Carbidopa 25 mg, Entacapone 200 mg, Levodopa 100 mg).
Nach Umstellung der Medikation sei die Kamptokormie gut rückläufig, aber der Patient laufe noch etwas krumm. An anderer Stelle wird für diesen Zeitpunkt beschrieben, der Patient habe ein vornübergebeugtes Gangbild mit linkskonvexer Abweichung (Kamptokormie oder Pisa-Syndrom?). Dem Meldebogen ist zu entnehmen, dass die Kamptokormie im Oktober 2014 aufgetreten sei, bis Mai 2015 bestanden habe und nach Absetzen von Neupro® rückläufig sei. Eine erneute Exposition mit Rotigotin habe man unterlassen.
Kamptokormie im Zusammenhang mit Morbus Parkinson
Unter Kamptokormie versteht man eine gebeugte Körperhaltung (Haltungsanomalie). Es handelt sich um eine vorwärtsgerichtete Beugung des Rumpfes bis zu 45° oder mehr. Sie ist ein Ausdruck dystoner Anspannungen der Rumpfmuskulatur bei gleichzeitiger posturaler Beeinträchtigung. Ist nur der Kopf durch ein Herabsinken betroffen, spricht man vom Dropped Head Syndrom. Die Kamptokormie stellt häufig eine gravierende Einschränkung für die Selbstständigkeit und Mobilität von Parkinson-Patienten dar. Zusätzlich leiden diese Patienten unter den mit der Kamptokormie häufig einhergehenden Rückenschmerzen unterschiedlich starker Ausprägung. Zumeist sind Parkinson-Patienten mit akinetisch-rigider oder gemischter Unterform im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium betroffen. In der Vorgeschichte finden sich vermehrt Erkrankungen bzw. Verletzungen der Wirbelsäule.
Die Prävalenz der Kamptokormie bei Parkinson-Syndrom wird mit 3–7 % angegeben (3). Diskutiert wird eine Imbalance zwischen dopaminergem und cholinergem System mit Betonung des cholinergen. Diese Konstellation dürfte eine Rolle bei der Modulation des Muskeltonus und somit für die Entwicklung von Sekundärschäden – z. B. Knochenbrüchen –spielen.
Das Auftreten einer Kamptokormie als eigenes Symptom der Parkinson-Erkrankung ist möglich. Dann wäre das Zusammentreffen der Verabfolgung von Rotigotin (Neupro®) einerseits und „Einfrieren“ sowie Kamptokormie andererseits ein Zufall. Dagegen spricht allerdings die Besserung nach Absetzen des Rotigotins.
Im Schrifttum gibt es Einzelfälle einer Auslösung der Kamptokormie wie auch des damit verwandten Pisa-Syndroms durch Verabfolgung dopaminerger Substanzen (4–7).
Offensichtlich wird durch die (zusätzliche) Gabe von dopaminergen Substanzen bzw. Dopaminrezeptoragonisten in Einzelfällen bei einem Parkinson-Syndrom die vorgenannte Imbalance zwischen den verschiedenen Transmittersystemen (cholinerg und dopaminerg) ausgelöst oder gefördert, sodass sich die Kamptokormie entwickeln kann. Vielleicht wird letzteres auch nur biografisch vorverlegt und würde sich später im Verlaufe der Krankheit ohnehin spontan einstellen.
Der zeitliche Zusammenhang und die Teilrückbildung nach Absetzen des Rotigotins im oben beschriebenen Fall stützt die Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs.
Informationen zu Nebenwirkungen von Rotigotin
Nebenwirkungen des Medikaments sind zumeist auf einen „Dopaminüberschuss“ zurückzuführen. Hierzu gehören: (orthostatische) Hypotonie und Synkopen, Einschlafattacken, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Obstipation, Diarrhoe, Müdigkeit, Somnolenz aber auch Schlafstörungen, allergische Reaktionen, Juckreiz. Wahrnehmungsstörungen (v. a. optische Halluzinationen), obsessive Zwangsstörungen, Schwindel, Palpitationen, Singultus, erektile Dysfunktion, Sehstörungen (typisch für alle Dopaminagonisten).
In der öffentlich recherchierbaren Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind insgesamt 666 Verdachtsberichte unerwünschter Arzneimittelwirkungen zu dem Wirkstoff Rotigotin erfasst, in denen insgesamt etwa 1850 Reaktionen beschrieben werden. Häufig gemeldet werden vor allem unterschiedliche Reaktionen an der Applikationsstelle des Pflasters wie Rötung, Juckreiz und Bläschen. Häufiger berichtet werden aber auch Unwirksamkeit des Arzneimittels sowie neurologisch-psychiatrische Reaktionen wie Schwindel und Halluzinationen.
Fazit für die Praxis
Ein Zusammenhang zwischen Auslösung der Kamptokormie und einer Rotigotin-Gabe ist wahrscheinlich, aber nur in dem Sinne, dass die Disposition zur Kamptokormie bei diesem Patienten aufgrund der besonderen Verlaufsform der idiopathischen Parkinson-Erkrankung bereits vorhanden war.
Verdachtsfälle einer Kamptokormie im Zusammenhang mit einer Therapie mit Rotigotin sollten der AkdÄ gemeldet werden (http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/UAW-Meldung/index.html).
Interessenkonflikte
Ein Interessenkonflikt wird von allen Autoren verneint.
Literatur
- UCB Pharma GmbH: Fachinformation "Neupro®". Stand: Februar 2015.
- Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2015. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2015.
- Wrede A: Charakterisierung der myopathologischen Veränderungen bei der Kamptokormie des Morbus Parkinson. Inaugural-Dissertation. Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität, Göttingen 2011.
- Solla P, Cannas A, Congia S et al.: Levodopa/carbidopa/entacapone-induced acute Pisa syndrome in a Parkinson's disease patient. J Neurol Sci 2008; 275: 154-156.
- Nakayama Y, Miwa H: Drug-induced camptocormia: a lesson regarding vascular Parkinsonism. Intern Med 2012; 51: 2843-2844.
- Cannas A, Solla P, Floris G et al.: Reversible Pisa syndrome in patients with Parkinson's disease on dopaminergic therapy. J Neurol 2009; 256: 390-395.
- Galati S, Moller JC, Stadler C: Ropinirole-induced Pisa syndrome in Parkinson disease. Clin Neuropharmacol 2014; 37: 58-59.