Kinder- und jugendpsychiatrische Pharmakotherapie − Was sollten Kinder- und Hausärzte davon wissen?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2016

Autorin

Zusammenfassung

Kinder- und jugendpsychiatrische Pharmakotherapie ist in der Regel Teil einer multimodalen Behandlungsstrategie, die eine entsprechende Fachexpertise erfordert. Aber auch Kinder- und Hausärzte, die nicht primär eine Pharmakotherapie initiieren, sind meist erste Ansprechpartner von Patienten und deren Eltern bei Fragen rund um die Psychopharmakotherapie. Es soll deshalb hier ein Überblick über wesentliche Nebenwirkungen und notwendige Kontrolluntersuchungen der am häufigsten verordneten Substanzklassen gegeben werden.

Abstract

Child and adolescent psychopharmacotherapy is usually part of a multimodal treatment strategy requiring specialised clinicians. Pediatricians and General Practitioners are the first contact persons for the young patients and their parents. The most important adverse events and recommended safety monitoring are summarised.

Die Psychopharmakaverordnungen für Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen u. a. für Psychostimulanzien, Neuroleptika und Antidepressiva. Ein nicht unerheblicher Anteil der Verordnungen wird von Kinder- und Hausärzten ausgestellt, z. B. werden ca. 25 % aller Antipsychotika im Kindes- und Jugendalter von Pädiatern verordnet und ca. 16 % von Hausärzten (1). Dabei besteht eine große Streuung in der Verordnungshäufigkeit unter den Kollegen. Unabhängig davon sind in aller Regel Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin und Hausärzte die erste Anlaufstelle für die jungen Patienten und deren Eltern. Was also sollten Kinder- und Hausärzte über kinder- und jugendpsychiatrische Pharmakotherapie wissen? Dieser Beitrag will zu dieser Frage einige zentrale Aspekte thematisieren. Dazu gehört auch der Off-Label-Use, da ein großer Teil der kinder- und jugendpsychiatrischen Pharmakotherapie außerhalb der Zulassung für Indikation, Altersbereich oder Dosierung verordnet wird. Diese Thematik wird jedoch auf den Seiten 127 ff. in dieser AVP-Ausgabe ausführlich diskutiert (2), weswegen hierauf im Folgenden nicht weiter eingegangen werden soll.

Bei nahezu allen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern muss die Indikation für eine Pharmakotherapie unter Einbezug der Indikation für psychoedukative und psychotherapeutische Verfahren beurteilt werden. Dies betrifft zum einen die Zulassungsbedingungen, zum anderen entspricht es dem multimodalen Ansatz der Kinder- und Jugendpsychiatrie, eine medikamentöse Therapie stets in ein therapeutisches Gesamtkonzept einzubinden. Damit erfordert die Verordnung eines Psychopharmakons auch eine Expertise hinsichtlich möglicher alternativer oder komplementärer psychotherapeutischer Verfahren neben der Fachkenntnis über erwünschte und unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die im Folgenden näher beleuchtet werden. Dabei soll ein Überblick über wesentliche Nebenwirkungen und notwendige Kontrolluntersuchungen der am häufigsten verordneten Substanzklassen gegeben werden, ohne dass die potenziellen Nebenwirkungen hier alle vollständig beschrieben werden können.

Pharmakotherapie

Zur Behandlung einer ADHS sind einige Substanzen ab dem Alter von sechs Jahren zugelassen, Methylphenidat und Atomoxetin als Mittel erster Wahl, Dexamfetamin und Lisdexamfetamin als Mittel zweiter Wahl nach Methylphenidat sowie Guanfacin erst bei mangelnder Wirksamkeit bzw. Verträglichkeit von Stimulanzien. Alle Medikamente dürfen nur im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzeptes neben psychotherapeutischen, psychoedukativen und sozialen Maßnahmen eingesetzt werden. Vor Behandlungsbeginn muss jeweils der kardiovaskuläre Status überprüft sowie eine Familienanamnese hinsichtlich kardialer Erkrankungen erhoben werden. Während bei Stimulanzien und Atomoxetin ein Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz erfolgen kann, ist eine häufige Nebenwirkung von Guanfacin Blutdrucksenkung und Bradykardie, weiterhin können Verlängerungen der QTc-Zeit auftreten (3;4). Am Behandlungsende muss Guanfacin wegen der Gefahr von Rebound-Hypertonien nach einem vorgegebenen Schema ausgeschlichen werden. Bei allen Substanzen sollen mindestens halbjährliche (bei Guanfacin im ersten Behandlungsjahr dreimonatige) Kontrollen von Blutdruck, Puls, Gewicht und Wachstum erfolgen. Wachstumsstörungen unter Stimulanzien und Atomoxetin, die in der Mehrzahl der Fälle klinisch nicht relevant sind, können z. B. im Einzelfall ausgeprägt sein (5). Bei Guanfacin ist darüber hinaus in der Eindosierungsphase eine wöchentliche Kontrolle von Blutdruck und Puls notwendig, auch muss bei allen Kontrolluntersuchung zusätzlich Somnolenz und Sedierung überprüft werden. Laborkontrollen sind bei den vorgenannten Medikamenten nicht routinemäßig vorgeschrieben, aber bei entsprechender klinischer Symptomatik anzuraten. Unter Atomoxetin wurden als seltene Nebenwirkung Leberfunktionsstörungen beschrieben, bei vorbestehender Leberschädigung ist die Dosierung anzupassen (6). Die Auswirkungen einer Langzeitbehandlung sind weder für Stimulanzien noch für Atomoxetin oder Guanfacin ausreichend untersucht. Umso wichtiger ist die für alle genannten Substanzen mindestens jährlich vorgeschriebene Überprüfung der weiteren Indikation, z. B. in einem Auslassversuch, die mit der gleichen Fachexpertise wie bei Behandlungsbeginn durchzuführen ist.

Bei den Antipsychotika haben v. a. Verordnungen neuerer Substanzen (Antipsychotika der zweiten Generation − SGA) deutlich zugenommen, v. a. in der Altersgruppe der 10- bis 14-Jährigen (1). Darunter befinden sich einige Off-Label-Verordnungen hinsichtlich der Indikation (z. B. bei aggressivem Verhalten, Irritabilität, Tics). Teilweise besteht hierfür Evidenz aufgrund randomisierter kontrollierter Studien, jedoch sind auch eine Reihe von Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen zu bedenken, die substanzspezifisch differieren können (7). Wesentlich sind v. a. kardiale und metabolische Nebenwirkungen, wie Verlängerung der QTc-Zeit, Blutdruckanstieg, Hyperlipidämie, Veränderungen des Blutzuckerspiegels sowie teilweise erhebliche Gewichtssteigerung und Hyperprolaktinämie. Auch Blutbildveränderungen können auftreten, für Clozapin mit einem hohen Risiko für eine Agranulozytose sind besonders engmaschige Blutbildkontrollen vorgeschrieben. Das Monitoring muss sich generell an dem substanzspezifischen Nebenwirkungsprofil orientieren (7). Vor Behandlungsbeginn und regelmäßig unter der Behandlung sollten Kontrollen von EKG und Labor sowie Blutdruck, Puls und Gewicht erfolgen. Weiterhin können auch bei SGA extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen sowohl akut wie auch langfristig oder als Absetzphänomen auftreten und bedürfen regelmäßiger Überprüfung (8). Auch bei den SGA existieren keine ausssagekräftigen Daten zur langfristigen Anwendung im Kindes- und Jugendalter beispielsweise hinsichtlich der Auswirkungen eines erhöhten Prolaktinspiegels auf die sexuelle Reifung (7). Deshalb muss die Indikation v. a. bei langfristiger Anwendung gut geprüft und das notwendige Monitoring zuverlässig durchgeführt werden.

Antidepressiva werden im Kindes- und Jugendalter zur Behandlung von Depressionen, Zwangsstörungen oder Angststörungen eingesetzt. Für alle diese Störungsbilder existieren wirksame psychotherapeutische Interventionen, die in der Regel vorrangig eingesetzt werden sollten. Unter den Substanzen mit belegter Wirksamkeit bestehen Zulassungen für verschiedene Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI): für Fluoxetin in der Behandlung von Depressionen ab dem Alter von acht Jahren nach mehreren Psychotherapiesitzungen ohne Behandlungserfolg sowie für Fluvoxamin und Sertralin in der Behandlung von Zwangsstörungen ab dem Alter von acht bzw. sechs Jahren. Trizyklische Antidepressiva sollen in der Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter nicht mehr eingesetzt werden, da sie der Behandlung mit Placebo nicht überlegen waren sowie aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils v. a. ihrer kardialen Auswirkungen (9). In der Behandlung von Angst- oder Zwangsstörungen besteht ebenfalls keine Evidenz für Trizyklika, allenfalls für Clomipramin in der Behandlung von Zwängen (10), die Anwendung ist jedoch aufgrund des Nebenwirkungspotenzials zurückhaltend zu beurteilen. SSRI können bei Kindern und Jugendlichen das Risiko für suizidales oder selbstschädigendes Verhalten erhöhen (11), was besonders bei der Behandlung von Depressionen mit bereits störungsbedingt erhöhtem Risiko für diese Ereignisse relevant ist. Weiterhin kann unter SSRI eine Verhaltensaktivierung/Enthemmung auftreten, die eine Reduktion oder das Absetzen der Medikation erfordert (12). Neben den vorgenannten psychiatrischen Nebenwirkungen sollten vor Behandlungsbeginn und nach der Eindosierung EKG und Laborwerte (Blutbild, Elektrolyte, Leberwerte) kontrolliert werden, danach in sechsmonatigen Intervallen die Laborwerte. Nach einer Remission der Depression wird eine sechsmonatige Erhaltungstherapie empfohlen (9). SSRI sollten nach Möglichkeit nicht schlagartig abgesetzt, sondern langsam ausgeschlichen werden, da anderenfalls Absetzphänomene (u. a. Schwindel, Dysästhesien) auftreten können.

Fazit für die Praxis

Zusammenfassend stehen für die Behandlung einiger psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter wirksame Substanzen zur Verfügung. Neben dem Wissen über die Einordnung der Pharmakotherapie in eine multimodale Behandlung sind Kenntnisse über die spezifischen Wirkungen und Nebenwirkungen in diesem Altersbereich für die verordnenden Kollegen unerlässlich. V. a. bei Langzeit- oder Off-Label-Verordnungen ist unser Wissen jedoch noch begrenzt, sodass diese gerade angesichts der steigenden Verordnungszahlen immer wieder kritisch überprüft werden sollten.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.

Literatur
  1. Bachmann C: Verschreibungen von Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche in Deutschland: Eine Analyse von Verordnungspraxis und -trends anhand ausgewählter Erkrankungen und Substanzgruppen:http://elib.suub.uni-bremen.de/edocs/00104794-1.pdf
  2. Janzen RWC: Off-Label-Use im Behandlungsalltag. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2016; 43: 127-132.
  3. Cortese S, Holtmann M, Banaschewski T et al.: Practitioner Review: Current best practice in the management of adverse events during treatment with ADHD medications in children and adolescents. J Child Psychol Psychiatry 2013; 54: 227-246.
  4. European Medicines Agency (EMA): Intuniv® - Guanfacin: European Public Assessment Report (EPAR) (Assessment Report):http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/003759/WC500195132.pdf
  5. Pitzer M: Wachstumsstörungen durch Methylphenidat? Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2012; 39: 138-139.
  6. Lilly Deutschland GmbH: Fachinformation „Strattera®“. Stand: Juni 2015.
  7. Pringsheim T, Lam D, Ching H, Patten S: Metabolic and neurological complications of second-generation antipsychotic use in children. A systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Drug Safety 2014; 34: 651-668.
  8. Pitzer M, Engelmann G, Stammschulte T: Antipsychotika-induzierte tardive Bewegungsstörungen – Fallbeispiel einer tardiven Dystonie unter Aripiprazol und Literaturübersicht. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother (im Druck).
  9. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP): S3-Leitlinie: Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen:http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-043l_S3_Depressive_St%C3%B6rungen_bei_Kindern_Jugendlichen_2013-07.pdf
  10. Ipser JC, Stein DJ, Hawkridge S, Hoppe L: Pharmacotherapy for anxiety disorders in children and adolescents (Review). Cochrane Database Syst Rev 2009, Issue 3: CD005170.
  11. Bridge JA, Iyengar S, Salary CB et al.: Clinical response and risk for reported suicidal ideation and suicide attempts in pediatric antidepressant treatment. A meta-analysis of randomized controlled trials. JAMA 2007; 297: 1683-1696.
  12. Offidani E, Fava GA, Tomba E, Baldessarini RJ: Excessive mood elevation and behavioral activation with antidepressant treatment of juvenile depressive and anxiety disorders: a systematic review. Psychother Psychosom 2013; 82: 132-141.