Kommentar zu Hotham N Kommentar zu Hotham N & Hotham E: Drugs in breastfeeding. [Arzneimittel in der Stillzeit]

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2016

Australian Prescriber 2015; 38: 156-160

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Der Artikel von Hotham und Hotham im Australian Prescriber unterstreicht zu Recht, dass in der Stillzeit nur selten eine Stillpause oder gar Abstillen gerechtfertigt sind, dies aber von Packungsbeilagen und Fachinformationen häufig suggeriert wird. Die meisten Medikamente finden sich in der Muttermilch in einem Konzentrationsbereich, der weit unter der therapeutischen Säuglingsdosis liegt. Sehr selten werden toxische Mengen gemessen. In diesem Zusammenhang ist der sogenannte M/P-Quotient (Quotient aus den Arzneimittelkonzentrationen in der Milch und dem mütterlichen Plasma) wenig informativ im Vergleich zur relativen Dosis für das gestillte Kind. Diese relative Dosis gibt den Prozentsatz der via Muttermilch übertragenen Menge einer Substanz (pro kg Körpergewicht des Säuglings) im Vergleich zur gewichtsbezogenen Tagesdosis der Mutter an. Im Gegensatz zum häufig zitierten M/P-Quotienten geht in die relative Dosis auch das für den Übertritt in die Milch maßgebliche Verteilungsvolumen des Medikaments ein. Der effektive Plasmaspiegel beim Säugling wird außer durch die aufgenommene Menge Muttermilch auch durch die orale Bioverfügbarkeit einer Substanz bestimmt und durch weitere Faktoren wie Zeitpunkt der Mahlzeit, Reife des Kindes und Ausscheidungskapazität.

Anders als bei Einmaldosen können unter Dauermedikation scheinbar zu vernachlässigende Konzentrationen aufgrund der verlängerten Halbwertszeit beim jungen, insbesondere unreifen Säugling durch Anreicherung zu Symptomen führen. Daher muss die wiederholte Gabe eines Arzneimittels grundsätzlich kritischer betrachtet werden als eine Einzeldosis. Neugeborene und insbesondere Frühgeborene sind gefährdeter, weil sowohl die Ausscheidung als auch die Funktionstüchtigkeit von Barrieren wie der Blut-Hirn-Schranke noch unzureichend entwickelt sind. Grundsätzlich problematisch in der Stillzeit sind Zytostatika und Radionuklide. Auch eine über Einzeldosen hinausgehende Opioidtherapie, Kombinationen mehrerer Psychopharmaka oder Antiepileptika, insbesondere bei Kombinationen mit Lamotrigin, Benzodiazepinen oder Lithium sind kritisch zu sehen. Bei Unabweisbarkeit einer solchen Anwendung mit mehreren zentral wirksamen Medikamenten muss im Einzelfall entschieden werden, ob vorübergehend oder endgültig auf das Stillen verzichten werden muss. Bei Monotherapie mit Lamotrigin, einem Antiepileptikum mit relativ ausgeprägtem Übergang in die Muttermilch oder Lithium muss nicht zwangsläufig auf das Stillen verzichtet werden, wie dies für Lithium durch die Aufnahme in die Tabelle kontraindizierter Medikamente suggeriert wird.

Als kontraindiziert in der Stillzeit werden in der Tabelle auch Iodid-Dosen über 150 µg/Tag bezeichnet. Diese Menge ist zu niedrig angesetzt, da für stillende Mütter bis zu 260 µg/Tag ausdrücklich als Supplementierung empfohlen werden. Goldsalze, ebenfalls in der Tabelle aufgeführt, spielen heute praktisch keine Rolle mehr in der Rheumatologie. Obwohl sie deutlich in die Milch übergehen und auch beim gestillten Säugling nachweisbar waren, sind schwerwiegende toxische Symptome nicht bekannt. Letzteres gilt auch für Retinoide in der Stillzeit. Diese sollten aber ebenso wie das vergleichsweise wenig in die Milch übergehende Valproat schon deswegen nicht in der Stillzeit angesetzt werden, weil sie in einer möglicherweise folgenden ungeplanten Schwangerschaft ein erhebliches teratogenes Risiko darstellen würden.

Bei jeder Langzeittherapie der Mutter, insbesondere mit zentral wirksamen Medikamenten, sollte auf Symptome beim Säugling geachtet werden. Dies wurde weltweit am Beispiel des tragischen Falls mit Codein deutlich: Ein voll gestilltes Neugeborenes, dessen Mutter zur Analgesie eine Kombination von Codein und Paracetamol einnahm, wurde zunehmend lethargisch und verstarb am 13. Lebenstag. In der Familie wurde der nicht seltene Polymorphismus des P450-2D6-Enzyms diagnostiziert, der eine ultraschnelle Verstoffwechselung von Codein zu Morphin bewirkt. Mehrere Nachfolgeuntersuchungen haben ergeben, dass es auch bei diesen Stoffwechselvoraussetzungen erst dann für den Säugling riskant wird, wenn die Mutter Codein-haltige Analgetika für mehr als zwei Tage einnimmt. Einzelne Dosen z. B. nach der Geburt sind für das Kind nicht riskant. Insofern ist die z. T. befürwortete generelle Kontraindikation von Codein in der Stillzeit nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil, sie birgt das Risiko, dass auf andere, weniger gut untersuchte und nicht weniger riskante Opioide ausgewichen wird. Dennoch muss betont werden, dass Ibuprofen das Analgetikum der ersten Wahl in der Stillzeit ist und auch bei postpartalen Schmerzen primär eingesetzt werden sollte. In der postpartalen Situation wird auch häufig im Zusammenhang mit einer Allgemeinanästhesie eine zu defensive Vorgehensweise beobachtet, wenn bis zu 24 Stunden Stillpause gefordert werden. Die heute üblichen Mittel in der Anästhesie erlauben es aber, das Kind anzulegen, sobald die Mutter hierzu in der Lage ist. Eine zusätzliche Stillpause ist nicht erforderlich.

Auch wenn nur wenige Medikamente zu wirklich bedrohlichen Nebenwirkungen beim gestillten Kind geführt haben, sollte man vor allem bei Neueinstellungen einer Therapie auf bewährte Mittel zurückgreifen, zu denen auch Erfahrungen bei stillenden Müttern und (in weiser Voraussicht auf eine folgende Schwangerschaft) mit Schwangeren vorliegen. Detaillierte Informationen zu Medikamenten in der Stillzeit finden sich auf der Internetseite www.embryotox.de des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryotoxikologie an der Charité Berlin oder in den von diesem Institut herausgegebenen Lehrbüchern (1;2). Auch individuelle Anfragen kann man an „Embryotox“ stellen.

Fazit für die Praxis

Für die weitaus meisten Erkrankungen in der Stillzeit gibt es hinreichend erprobte Medikamente. Die Auswahl muss sorgfältig mithilfe qualifizierter Literatur oder nach Konsultation einschlägiger Informationsdatenbanken oder Beratungszenten (www.embryotox.de) erfolgen. Neue, unzureichend untersuchte Medikamente sind ebenso zu meiden wie nachweislich toxische Substanzen. Bei der Therapieplanung sollten nicht nur in der Stillzeit sondern im gesamten reproduktionsfähigen Alter der Frau hinsichtlich Verträglichkeit für das ungeborene und gestillte Kind bewährte Mittel bevorzugt werden. Bei sorgfältiger Wahl der geeigneten Medikamente bedarf es keiner Stillpause und schon gar nicht eines Abstillens.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C (Hrsg.): Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl. München: Elsevier/Urban & Fischer, 2012.
  2. Schaefer C, Peters P, Miller RK (Hrsg.): Drugs during pregnancy and lactation. 3. Aufl. Heidelberg, London, New York u. a.: Elsevier/Academic Press, 2015.