Hilfe für Ärzte mit Abhängigkeitserkrankungen

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 2/2016

(Das Suchtinterventionsprogramm der Ärztekammer Hamburg)

Autorin
  • Dipl.-Theol. Dorthe Kieckbusch, Ärztekammer Hamburg, gf@aekhh.de

Zusammenfassung

Aufgrund der hohen beruflichen Belastung sind auch Ärzte suchtgefährdet. Scham des „Heilers“ und Ängste um Beruf und Approbation führen zu einer eingeschränkten Bereitschaft, sich und anderen die Sucht als Krankheit einzugestehen. So kommt die Entdeckung meist von außen, z. B. durch Patienten, Kollegen oder Apotheken. Die Hamburger Ärztekammer bietet (in Absprache mit den Landesbehörden) ein zeitlich und inhaltlich strukturiertes Programm, in dem nach Entgiftung Schritte zur Reintegration und beruflicher Festigung etabliert sind. Drei Viertel der erstmalig Betroffenen und jedem sechsten Arzt im Rückfall kann so unter Erhalt von Approbation und Arbeitsplatz geholfen werden.

Abstract

High professional workload puts physicians at risk for substance abuse and addiction. Shame and fear regarding occupation and license lead to a limited readiness to admit the addiction. Thus the discovery comes mostly within the professional setting or pharmacies. The Hamburg Council of Physicians offers a structured program (in arrangement with the authorities), in which after detoxification steps are taken for the personal and professional reintegration. Three quarters of newly diagnosed physicians and every sixth relapsed physician can be treated under preservation of license and workplace.

Schwierige Gratwanderung

„Häufige Anforderung von Midazolam-Ampullen in der Apotheke“, „Verdacht eines Mitarbeiters, dass der Arzt sich regelmäßig Tramadol spritzt“, „Rezepte über Morphin und Pethidin als Praxisbedarf“ – Wenn die Ärztekammer Hinweise auf Medikamentenmissbrauch erhält oder über auffälliges Verschreibungsverhalten und ungewöhnliches Verhalten in der Öffentlichkeit benachrichtigt wird, wird die Kammer von sich aus tätig und nimmt Kontakt zu dem Arzt oder der Ärztin auf. Nicht selten stellt sich nach internistischen und suchtmedizinischen Untersuchungen heraus, dass eine Medikamentenabhängigkeit vorliegt. Das ist das Ende eines oft langen Weges, der zugleich einen Neubeginn darstellt.

Ähnlich ist die Situation bei Alkoholabusus. Hier kann beispielsweise ein Verkehrsdelikt, über das die Ärztekammer von der Justizbehörde informiert wird, zur Folge haben, dass die Ärztekammer dem Verdacht eines Alkoholabusus nachgeht.

Druck und Anreiz

Hilfe bietet das Suchtinterventionsprogramm der Ärztekammer Hamburg. Seit mehr als 20 Jahren hat sich aus der Beobachtung von Einzelfällen heraus eine strukturierte Intervention entwickelt. Ziel ist die Wiederherstellung und der Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Ärzte. Zugleich muss die Kammer aber zuallererst dem berechtigten Schutzinteresse des Patienten gerecht werden. Viele süchtige Ärzte fürchten im Fall ihrer Entdeckung den Entzug ihrer Approbation. Unter welchen Umständen aber Approbationen entzogen werden, ist abhängig vom Behandlungserfolg und hier insbesondere von der Frage, wie zuverlässig und wie compliant der Arzt (als Patient) ist. Das Wichtigste ist, das Wohl der Patienten zu schützen. Es muss daher sichergestellt sein, dass ein Arzt mit einer unbehandelten Sucht keine Patienten therapiert. Ob eine suchttherapeutische Intervention erforderlich ist, hängt von vielen Einzelfaktoren ab. Es gilt, zunächst eine Indikation zu stellen – im Zweifel erfolgt dies mit Hilfe einer suchtmedizinischen Begutachtung. Zeigt sich ein Arzt-Patient aber kooperativ und macht eine stationäre Entgiftung und eine Entwöhnung, dann lernt er dort in der therapeutischen Analyse, seine Sucht zu beherrschen und eine dauerhafte Abstinenz zu erreichen. Wenn er diese Perspektive erreicht hat, kann er auch Patienten behandeln. Das ist das Ziel des Programms.

Will sich jemand trotz manifester Sucht aber nicht in Behandlung begeben, bricht die Therapie ab oder hält sich nicht an die Vereinbarungen des Programms, dann wird die zuständige Behörde die Approbation sehr wahrscheinlich ruhen lassen oder entziehen.

Wie schwierig diese Gratwanderung ist, zeigt die Suchterkrankung einer Anästhesistin. Hier war es die Apotheke, die die Ärztekammer über einen etwaigen Medikamentenmissbrauch informiert hat. Anna S. begleitet als Anästhesistin ambulante Operationen. Sie fühlt sich von den Anforderungen in der Praxis erdrückt – insbesondere, da sie alle Entscheidungen allein zu treffen hat. Versagensängste kommen hinzu – aber Kollegen und Mitarbeiter dürfen nichts merken. Der Schritt zu einigen Tropfen Tilidin ist klein. Sie merkt, dass sie ruhiger wird, dass der berufliche Alltagsstress zunächst besser zu bewältigen ist. Doch es bleibt nicht bei den wenigen Tropfen; sie fängt an, sich zusätzlich Fentanyl zu spritzen: Die Einstichstellen sind sichtbare Zeichen des sich steigernden Betäubungsmittelmissbrauchs. Dazu sucht sie verschiedene Apotheken auf, besorgt sich Tilidin auf Privatrezept. Manchmal gibt es Rückfragen: Warum die große Menge? Als Erklärung nennt sie schwer objektivierbare Schmerzsymptome wie migräneartigen Kopfschmerz. Eine Apotheke, die sich über die großen Mengen der Fentanylbestellung wundert, informiert schließlich die Ärztekammer. Die handelt sofort – noch am selben Tag soll die Ärztin zu einem Treffen in die Kammer kommen, bei dem sie mit dem Verdacht konfrontiert wird. Sie gesteht ihre Sucht ein – nach zwei Jahren der Odyssee begibt sie sich in Behandlung.

Oft dauert es sehr lange – auch weit mehr als zwei Jahre − bevor sich der Betroffene in Behandlung begibt. Denn das Selbstverständnis des Arztes ist oft ein anderes: Während gemeinhin der Substanzmissbrauch von Alkohol oder Medikamenten als Erkrankung akzeptiert wird, gibt es für Ärzte fast unüberwindliche Hürden in der Annahme der eigenen Patientenrolle. Das ist der Grund, warum oft erst spät Hilfe gesucht wird. „Leider meist sehr spät“, so Dr. Klaus Beelmann, der als Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer für das Suchtinterventionsprogramm verantwortlich ist. Denn durch das Selbstverständnis des „unverwundbaren Helfers“ dauere es bei Ärzten oft länger, bis Hilfe gesucht werde. Oft sind die Finanzen schon in Schieflage oder es gibt familiäre Auseinandersetzungen und andere Auffälligkeiten, sodass sich Dritte an die Kammer wenden. Die Angst vor Aufdeckung ist groß und bedroht die Existenz: Der Arbeitsplatz, die Approbation sind in Gefahr, Regresse oft die Folge. Dabei glaubt der Arzt meist, sich selbst gut unter Kontrolle zu haben. Die Substanzwirkung vertieft diese Tendenz zur Einschränkung des Kritikvermögens. Der Arztberuf stellt hohe Anforderungen − das kann zur Überschätzung der eigenen Kräfte und zur chronischen Überforderung führen. Dass die reale ärztliche Persönlichkeit erschöpfbar bleibt, wird daher meist verdrängt.

Strukturierte Intervention über zwei Jahre

Das Interventionsprogramm hat einen strukturierten Ablauf mit drei Phasen: Klärung, Therapie und Nachsorge. In Hamburg beginnen bis zu sechs Ärzte jedes Jahr neu mit einer Intervention. In der Klärungsphase − sie dauert rund eine bis vier Wochen − werden Gespräche mit dem Betroffenen geführt. Die Ärzte sind meist in einem desolaten Zustand, intoxikiert, oft auch aggressiv. Deshalb ist es notwendig, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der Abwehr und Aggression aufgefangen werden. In nahezu allen Fällen kann das Bestehen einer Abhängigkeitserkrankung deutlich gemacht werden. Kommt man nicht zu diesem Einvernehmen, versucht Dr. Beelmann Betroffene zu überzeugen, durch Untersuchungen objektive Ergebnisse für beide Seiten zu erhalten und so den bestehenden Verdacht auf eine Suchterkrankung zu bestätigen oder zu entkräften.

In der etwa zwei Monate dauernden zweiten Phase findet die Entgiftung – meist übernommen von der Krankenversicherung – und Entwöhnung in einer Suchtklinik statt. Die Kammer hilft bei der Auswahl und unterstützt bei der Organisation der Praxisvertretung. Sie spricht mit dem Versorgungswerk über die Kostenübernahme der Entwöhnungsbehandlung. In Hamburg übernimmt das Versorgungswerk die Kosten der ersten Entwöhnungsbehandlung, und 50 Prozent der Kosten bei einer eventuell notwendig werdenden zweiten.

In der regelhaft zwei Jahre dauernden Nachsorgephase werden in einer Vereinbarung Maßnahmen festgelegt. Direkt nach dem Klinikaufenthalt verpflichtet sich der Arzt, monatlich eine gutachterliche Untersuchung durchzuführen. Die Kammer führt ebenfalls monatlich mit dem Betroffenen ein Gespräch zur Situation und initiiert Abstinenzkontrollen, auch unangemeldet. Die Kammer behält zudem im Blick, ob die Psychotherapie und die Selbsthilfegruppe regelmäßig besucht werden. Bei Rückfällen muss neu entschieden werden, inwiefern das Suchtinterventionsprogramm weitergeführt werden kann oder ob ein Abbruch notwendig ist. Denn die Gesundheitsbehörde – in Hamburg für Erteilung und Entzug der Approbation zuständig – ist über die Teilnahme am Interventionsprogramm informiert. Das war in den ersten Jahren anders. Inzwischen wird die Durchführung des Interventionsprogrammes gemeinsam gestaltet und approbationsrechtliche Schritte werden nur dann eingeleitet, wenn der Arzt nicht ausreichend mitarbeitet und sich den vereinbarten Auflagen entzieht. Diese Absprachen sichern das Interventionsprogramm rechtlich ab und schaffen eine solide Basis für eine verantwortbare Rückkehr in den Beruf.

Den Erfolg des Suchtinterventionsprogramms statistisch zu bemessen, fällt aufgrund der bislang kleinen Fallzahl schwer. Doch etwa drei Viertel der Betroffenen schaffen es, die Suchtintervention erfolgreich abzuschließen und auch in der Gruppe der Ärzte mit einem oder mehreren Rückfällen kann bei jedem sechsten Arzt ein dauerhafter Therapierfolg erreicht werden.

Eine Frage, die sich immer wieder aufdrängt, ist die des Umgangs mit einem „Verdacht“. Denn der Gedanke „ich möchte meinen Kollegen nicht verpetzen“ ist noch immer weit verbreitet. Verdachtsfälle werden von Kollegen meist nur genannt, wenn vorher zugesichert wurde, dass der Betroffene nicht erfährt, wer die Kammer informiert hat. „Das ist falsch verstandene Solidarität“, meint Dr. Beelmann, der es aber für den besseren Weg hält, zunächst frühzeitig den Betroffenen selbst anzusprechen und dann erst Kammer oder Vorgesetzte zu informieren. „Der hohe Grad an Verantwortung für die Patienten lässt keinen anderen Weg als den der Konfrontation zu und letztlich sieht der Betroffene das im Nachhinein meist sehr positiv.“

So auch Anna S. Für sie war die Aufdeckung der Sucht wichtig. Sie hat sich in stationäre Behandlung begeben – für vier Monate. Danach schloss sich das engmaschige Nachsorgeprogramm an: Selbsthilfegruppe, Psychotherapie, Kontrolluntersuchungen und regelmäßige Besuche in der Suchtklinik wie auch in der Ärztekammer. Nach einem Rückfall arbeitet sie inzwischen wieder, hat sich aber jetzt für eine Anstellung außerhalb des OPs – mit seiner Nähe zu Suchtstoffen – entschieden.

Fazit für die Praxis

Das strukturierte Interventionsprogramm der Ärztekammer Hamburg führt suchtkranke Ärztinnen und Ärzte an eine therapeutische Chance heran. Hilfe für den Arzt, aber zugleich das Wohl der Patienten zu schützen, ist das Ziel des Programms. Die Ärztekammer begleitet den Arzt bei den notwendigen Schritten. Die engmaschige Begleitung in der Nachsorgephase ermöglicht den Betroffenen, ihren Beruf weiterhin auszuüben, sofern die Compliance stimmt.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird von der Autorin verneint.