Allopurinol ist die häufigste Ursache für Stevens-Johnson-Syndrom und Toxisch epidermale Nekrolyse in Europa und Israel (UAW-News International)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 106, Heft 36, 04.09.2009

Das Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) und die Toxisch epidermale Nekrolyse (TEN, früher auch medikamentöses Lyell-Syndrom genannt) sind schwere Arzneimittelreaktionen an der Haut, die sehr selten auftreten, aber mit einer hohen Letalität einhergehen. Beide Erkrankungen werden heute als verschiedene Ausprägungsgrade derselben Krankheitsentität aufgefasst (1, 2). Während beim SJS die Ausdehnung der Epidermisablösung weniger als 10 % der Körperoberfläche beträgt, sind bei der TEN mehr als 30 % betroffen, zwischen 10 % und 30 % spricht man von der SJS/TEN-Übergangsform. In verschiedenen pharmakoepidemiologischen Untersuchungen wurde das Risiko zur Auslösung von SJS und TEN für Arzneimittel analysiert (3, 4).

Das EuroSCAR-Projekt ist eine multinationale Fall-Kontroll-Studie zu schweren Arzneimittelreaktionen an der Haut (SCAR: severe cutaneous adverse reactions), an der sechs Länder beteiligt waren (Deutschland, Frankreich, Israel, Italien, Niederlande und Österreich) (4). In dieser Studie wurden 379 Patienten ausgewertet, die zwischen 1997 und 2001 wegen SJS (n = 134), TEN (n = 109) oder SJS/TEN-Übergangsform (n = 136) stationär aufgenommen und deren Hautreaktionen von einem Expertengremium bewertet wurden (5). Diesen Fällen wurden jeweils anhand Alter, Geschlecht, Region und Zeitpunkt der Erfassung drei Kontrollen zugeordnet, die aufgrund festgelegter Aufnahmediagnosen (u. a. akute Infektion, Trauma, akutes Abdomen) ausgewählt wurden. Die am häufigsten mit SJS/TEN assoziierten Arzneimittel in der Studie waren Allopurinol (n = 66), Carbamazepin (31), Cotrimoxazol (24), Nevirapin (21), Phenobarbital (20), Phenytoin (19) und Lamotrigin (14). Die adjustierte Odds Ratio war für Carbamazepin am höchsten (OR 72; 95% CI 23–225), gefolgt von Allopurinol (OR 18; 95% CI 11–32). Das Risiko von SJS/TEN unter Allopurinol war dosisabhängig und bei Einnahme von mehr 200 mg täglich deutlich höher als unter niedrigeren Dosierungen. Das erhöhte Risiko beschränkte sich auf Patienten, die innerhalb von acht Wochen vor Beginn der Hautreaktion erstmals Allopurinol eingenommen hatten. Bei Patienten, die Allopurinol bereits über einen längeren Zeitraum eingenommen hatten, war das Risiko nicht erhöht. Die Zahl der begleitend eingenommenen Arzneimittel hatte keinen Einfluss auf das Risiko.

In der Datenbank des deutschen Spontanmeldesystems (gemeinsame Datenbank von BfArM und AkdÄ, Stand Juli 2009) sind 903 Verdachtsberichte unerwünschter Arzneimittelwirkungen im Zusammenhang mit Allopurinol erfasst. Von diesen Berichten beziehen sich 303 auf SJS/TEN, in 93 Fällen mit tödlichem Ausgang. Dabei handelt es sich im Wesentlichen nicht um Spontanmeldungen, sondern um Fallberichte aus systematischer Erfassung des Dokumentationszentrums schwerer Haut-reaktionen (dZh), welches seit 1990 alle hospitalisierten Erkrankungsfälle von SJS/TEN in Deutschland erfasst und diese in anonymisierter Form an das BfArM weitergibt (6). Das dZh war auch an der EuroSCAR-Studie beteiligt und organisiert nun das internationale RegiSCAR-Projekt (7, 8). Einschränkend muss angemerkt werden, dass in der Mehrzahl der Meldungen von schweren Hautreaktionen mehr als ein Medikament angeschuldigt wird bzw. im Einzelfall ein gewisses Risiko für neu angesetzte Begleitmedikationen nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Autoren der oben beschriebenen Studie weisen darauf hin, dass in EuroSCAR gegenüber der von 1989 bis 1995 durchgeführten Vorläuferstudie SCAR (4) die Expositionen mit Allopurinol bei den eingeschlossenen Patienten um den Faktor 2 bis 3 zugenommen haben. Sie leiten daraus eine Tendenz zur unkritischen Behandlung der asymptomatischen Hyperurikämie mit Allopurinol ab. Diese führe nach Hochrechnung ihrer Daten auf die gesamte europäische Bevölkerung (376 Mio.) zu etwa 100 zusätzlichen, vermeidbaren Fällen von SJS/TEN, davon schätzungsweise 30 mit Todesfolge.

Entsprechend dem Arzneiverordnungs-Report waren die Verordnungen von Allopurinol in den letzten drei Jahren mit etwa 330 Mio. DDD pro Jahr stabil. Bei der Analyse eines größeren Zeitraums bestätigt sich jedoch eine deutliche Zunahme der Verordnungen. So war die Zahl der verordneten DDD 2007 etwa 38 % höher als 1997 (9).

Allopurinol vermindert durch Hemmung der Xanthinoxidase die Produktion von Harnsäure. Zugelassen ist es bei Hyperurikämie mit Serum-Harnsäurewerten = 8,5 mg/dl sofern eine Diät nicht ausreicht bzw. klinische Komplikationen der Hyperurikämie aufgetreten sind (manifeste Gicht, Uratnephropathie, Uratnephrolithiasis) (10). Bei welchen Patienten eine medikamentöse Therapie bei asymptomatischer Hyperurikämie eingeleitet werden sollte und ab welchem Serum-Harnsäurewert sie sinnvoll ist, ist nicht abschließend geklärt (11, 12). Empfohlen wird derzeit eine medikamentöse Behandlung bei Serum-Harnsäurewerten > 9 mg/dl. Weitere Indikationen für Allopurinol sind sekundäre Hyperurikämien, z.B. bei Chemotherapie oder Nierenerkrankungen, sowie die angeborenen Enzymmangelkrankheiten (Lesch-Nyhan- bzw. Kelley-Seegmiller-Syndrom).

Die vorliegenden Daten spiegeln das Risiko für schwere Hautreaktionen unter Allopurinol wider. Hinsichtlich der angestiegenen Verordnungen soll an die zugelassenen Indikationen erinnert werden. Allopurinol sollte nicht unkritisch zur "Laborkosmetik" von leichtgradig erhöhten, asymptomatischen Harnsäurewerten verschrieben und in einer möglichst niedrigen Dosis eingesetzt werden. Zu Beginn der Behandlung sollten Patienten über Symptome aufgeklärt werden, die auf eine beginnende schwere Hautreaktion hindeuten können. Zu diesen Symptomen zählen Fieber, Augenbrennen, Schluckbeschwerden und Hautläsionen am Stamm.

Bitte teilen Sie der AkdÄ alle beobachteten Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können dafür den Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird oder über die Homepage der AkdÄ abrufbar ist. Es besteht auch die Möglichkeit, über www.akdae.de direkt online einen UAW-Verdachtsfall zu melden. Bei Verdacht auf das akute Vorliegen von SJS oder TEN sollten sich behandelnde Ärzte rasch mit dem dZh an der Universitäts-Hautklinik Freiburg in Verbindung setzen (Telefon: 07 61/2 70-67 23, E-Mail: dzh@uniklinik-freiburg.de)

Literatur

  1. Auquier-Dunant A, Mockenhaupt M, Naldi L et al.: Correlations between clinical patterns and causes of erythema multiforme majus, Stevens-Johnson syndrome, and toxic epidermal necrolysis: results of an international prospective study. Arch Dermatol 2002; 138: 1019–24.
  2. Mockenhaupt M: Severe drug-induced skin reactions: clinical pattern, diagnostics and therapy. J Dtsch Dermatol Ges 2009; 7: 142–60.
  3. Roujeau JC, Kelly JP, Naldi L et al.: Medication use and the risk of Stevens-Johnson syndrome or toxic epidermal necrolysis. N Engl J Med 1995; 333: 1600–7.
  4. Mockenhaupt M, Viboud C, Dunant A et al.: Stevens-Johnson syndrome and tox-ic epidermal necrolysis: assessment of medication risks with emphasis on recently marketed drugs. The EuroSCAR-study. J Invest Dermatol 2008; 128: 35–44.
  5. Halevy S, Ghislain PD, Mockenhaupt M et al.: Allopurinol is the most common cause of Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis in Europe and Israel. J Am Acad Dermatol 2008; 58: 25–32.
  6. Mockenhaupt M, Schröder W, Schneck B et al.: Populationsbezogene Erfassung von schweren Hautreaktionen in Deutschland. Allergo J 1998; 7: 381–4.
  7. RegiSCAR-project – EU project focus: www.orpha.net/actor/EuropaNews/2006/060124.html. The newsletter of the rare disease task force, January 24, 2006. Zuletzt geprüft: Juli 2009.
  8. The RegiSCAR project: regiscar.uni-freiburg.de. Zuletzt geprüft: Juli 2009.
  9. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2008. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2008.
  10. Ratiopharm GmbH: Fachinformation "Allopurinol-ratiopharm® 100/300 mg Tabletten". Stand: November 2006.
  11. Dincer HE, Dincer AP, Levinson DJ: Asymptomatic hyperuricemia: to treat or not to treat. Cleve Clin J Med 2002; 69: 594–608.
  12. Terkeltaub RA: Clinical practice. Gout. N Engl J Med 2003; 349: 1647–55.