Behandlung von erwachsenen Patienten mit Huntington-Erkrankung

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 4/2022

Therapie aktuell

Chorea Huntington

Die Chorea Huntington ist eine genetische, autosomal-dominant vererbbare, neurodegenerative Erkrankung, bei der extrapyramidal-motorische Störungen (typischerweise Hyperkinesien) und psychische sowie kognitive Störungen auftreten. Sie gehört zu den Trinukleotid-Erkrankungen, bei denen eine Mutation zur vermehrten Wiederholung des Basentripletts Cytosin, Adenin und Guanin (CAG) im Huntington-Gen auf dem kurzen Arm des 4. Chromosoms führt. Dies bedingt einen stetig zunehmenden Neuronenuntergang, insbesondere im Striatum. Das Erkrankungsalter ist von der Anzahl der Wiederholungen des Basentripletts abhängig (sog. CAG-Wert), liegt aber typischerweise um das 40. Lebensjahr (1).

Frühe Symptome, die den Bewegungsstörungen oft um Jahre vorrausgehen, sind psychiatrische Störungen, wie depressive Verstimmungen oder vermehrte Reizbarkeit. Im Verlauf tritt bei etwa 90 % der Patienten eine choreatische Bewegungsstörung mit Hyperkinesien des Gesichts, der Extremitäten und des Rumpfes auf, die in frühen und mittleren Stadien am stärksten ausgeprägt ist, ein Maximum nach etwa zehn Jahren erreicht und danach abnimmt. Zudem können im Verlauf Hypokinese, Rigor und Dystonie auftreten. In späten Stadien entwickelt sich meist eine zunehmende Demenz. Der Verdacht auf eine Chorea Huntington ergibt sich aus der typischen Klinik und einer positiven Familienanamnese, gesichert wird die Diagnose durch molekulargenetische Untersuchungen (1).

Behandlungsstandard von Chorea Huntington

Die Chorea Huntington ist eine hinsichtlich der Behandlung sehr komplexe Erkrankung. Während in früheren Stadien die Symptomatik meist von der choreatischen Bewegungsstörung dominiert wird, können im späteren Verlauf Hypokinese, Rigor und Dystonie auftreten und dann die motorische Symptomatik bestimmen. Die Symptomatik kann intraindividuell stark variieren und erfordert dann eine Anpassung der Medikation. Chorea ist auch im Frühstadium nicht immer das führende Symptom, wird nicht regelhaft von den Patienten als Beeinträchtigung empfunden (1), und ist daher nicht stets behandlungsbedürftig. Von der Huntington Study Group und der European Huntingston’s Disease Network wurden Zwangsstörungen und Reizbarkeit als weitere wichtige Symptome der Chorea Huntington identifiziert, zudem Depression, Angst, Schlafstörungen und psychotische Störungen (2). Neben einer neurologischen und psychiatrischen Behandlung sind daher häufig auch psychologische, psychosoziale, krankengymnastische, ergotherapeutische und logopädische Maßnahmen erforderlich (3). Eine kausale Therapie der Huntington-Erkrankung existiert derzeit nicht. Bisher steht lediglich die symptomatische Therapie zur Verfügung.

Zur Behandlung der Chorea bei Huntington-Erkrankung werden überwiegend Dopaminrezeptorantagonisten (z. B. Tiaprid, Haloperidol und atypische Neuroleptika) sowie Tetrabenazin (z. B. Nitoman®, Tetrabenazin neuraxpharm®) eingesetzt. In Deutschland sind zur Behandlung der choreatischen Bewegungsstörung bei Huntington-Erkrankung lediglich Tetrabenazin und Tiaprid zugelassen.

Tetrabenazin ist ein selektiver Hemmer des vesikulären Monoamintransporters 2 (VMAT2) der präsynaptischen neuronalen Vesikel, der für die Beladung von Vesikeln in der präsynaptischen Endplatte mit Katecholaminen sorgt. Die Hemmung des VMAT2 führt zu einer Entleerung der Speicher von Dopamin und anderen Monoaminen im zentralen Nervensystem. Dadurch kommt es zu einer reversiblen Verarmung an Dopamin in den präsynaptischen Vesikeln mit nachfolgender Verminderung der Erregungsübertragung, was sich günstig auf hyperkinetische Bewegungsstörungen auswirkt (4). Tetrabenazin hat ein Nebenwirkungsprofil, das mit Neuroleptika vergleichbar ist und führt zusätzlich häufig zu einer depressiven Störung. Tiaprid ist ein Dopaminrezeptorantagonist und weist das Nebenwirkungsprofil typischer Neuroleptika auf, insbesondere Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel, Parkinsonoid, Spätdyskinesien und Gewichtszunahme.

Die S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie nennt als Hauptmedikamente zur Behandlung der Hyperkinesien bei Huntington-Erkrankung Tetrabenazin, Tiaprid, atypische Neuroleptika, Haloperidol, Amantadin, Valproat und Levetiracetam (3). Die Qualität der verfügbaren Studien ist gering und wird für Tetrabenazin noch am höchsten bewertet. Da keine vergleichenden Studien vorliegen, könne keine evidenzbasierte Handlungsempfehlung gegeben werden.

Die Leitlinie der American Academy of Neurology betont, dass die Indikation zur medikamentösen Behandlung der Chorea Huntington individuell entschieden werden muss. Falls eine Pharmakotherapie der Chorea indiziert ist, wird eine Behandlung mit Tetrabenazin, Amantadin oder Riluzol empfohlen (Evidenzgrad B) (5). Diese Leitlinie wurde kritisiert, da die Evidenz für Riluzol und Amantadin unzureichend ist und beide Wirkstoffe in der Praxis kaum eingesetzt werden (1).

Riluzol (Rilutek® und Generika) ist zugelassen zur Verlängerung der Lebenserwartung bzw. zur Hinauszögerung der Zeit bis zum Einsatz der mechanischen Beatmung bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (Fachinformation Rilutek®, Stand: November 2021).

Amantadin (z. B. Amantadin® Stada) ist zugelassen zur Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms sowie zur Behandlung eines durch Neuroleptika und ähnlich wirkende Arzneimittel bedingten Parkinson-Syndroms. Weiterhin ist Amantadin zugelassen zur Chemoprophylaxe von Influenza-Infektionen bei ungeimpften Personen oder bei geimpften Personen im Rahmen von Epidemien mit einem von Impfstämmen nicht erfassten Influenza-A-Subtyp sowie bei Vigilanzminderung bei postkomatösen Zuständen verschiedener Genese im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes (Fachinformation Amantadin® Stada, Stand: Dezember 2018).

Die französische Leitlinie gibt einen hohen Empfehlungsgrad für die Wirksamkeit von Tetrabenazin zur Behandlung von Chorea bei der Huntington-Erkrankung an und kommt zu dem Schluss, dass Riluzol nicht wirksam ist (6). Atypische Neuroleptika werden als erste Wahl empfohlen, wenn psychiatrische Störungen vorliegen.

Ein Cochrane-Review stellt allerdings fest, dass für keinen Wirkstoff zur symptomatischen Behandlung der Chorea Huntington ausreichende Evidenz vorliegt und keine evidenzbasierten Therapieempfehlungen gegeben werden können. Tetrabenazin wird als Wirkstoff mit der verhältnismäßig besten Evidenz eingeordnet (7).

Eine Umfrage unter 52 internationalen Experten zur Therapie der Chorea ergab, dass in Europa als Wirkstoff der ersten Wahl vorwiegend Neuroleptika und weniger häufig Tetrabenazin eingesetzt werden, in den USA dagegen etwa gleichermaßen Neuroleptika und Tetrabenazin (2). Die Wirksamkeit von Neuroleptika und Tetrabenazin wurde von den Experten als etwa gleichwertig eingeschätzt. Als Nebenwirkungen wurden Apathie, Parkinsonsyndrom, metabolisches Syndrom und tardive Dyskinesien häufiger unter Neuroleptika als unter Tetrabenazin genannt, Akathisie gleichermaßen häufig bei Tetrabenazin und Neuroleptika und Depression als typische Nebenwirkung von Tetrabenazin.

In Deutschland kann die Versorgungssituation anhand einer repräsentativen Versorgungsstudie abgeschätzt werden (8). Am häufigsten werden Neuroleptika (Dopaminrezeptorantagonisten) verordnet (66,9 %), meistens Tiaprid (46,8 %). Antidepressiva erhielten 45,1 % der Patienten mit Huntington-Erkrankung. Die Untersuchung ist allerdings nicht auf Patienten mit Huntington-Erkrankung im frühen Stadium begrenzt.

Behandlungsentscheidung

Die Wahl eines geeigneten Wirkstoffs zur Behandlung hyperkinetischer Bewegungsstörungen beim Morbus Huntington hängt entscheidend von Begleiterkrankungen ab. Neuroleptika werden bevorzugt eingesetzt, wenn Psychose, Depression oder aggressive Verhaltensstörungen vorliegen. Tetrabenazin ist mit Depression und Suizidalität assoziiert und sollte bei einer entsprechenden Vorgeschichte nicht bzw. sehr zurückhaltend eingesetzt werden (2). Aufgrund möglicher extrapyramidaler Nebenwirkungen einer Therapie mit Dopaminrezeptorantagonisten und dem Dopamin-depletierenden Wirkstoff Tetrabenazin sollte die Relevanz der hyperkinetischen Bewegungsstörung hinsichtlich der Lebensqualität stets individuell ermittelt werden.

Literatur

  1. Reilmann R: Pharmacological treatment of chorea Huntington’s disease – good clinical practice versus evidence-based guideline. Mov Dis 2013; 28: 1030-1033.
  2. Burgunder JM, Guttman M, Perlman S et al.: An international survey-based algorithm for the pharmacologic treatment of chorea in Huntington’s disease. PLoS Curr 2011; 3: RRN1260.
  3. Saft C, Burgunder J-M, Seppi K et al.: S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington: https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030028_LL_Chorea_Huntington_2017.pdf (letzter Zugriff: 25. Oktober 2021). In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 2017.
  4. Hormosan Pharma GmbH: Fachinformation „Nitoman® 25 mg Tabletten“. Stand: August 2021.
  5. Armstrong MJ, Miyasaki JM: Evidence-based guideline: Pharmacological treatment of chorea in Huntington disease. Report of the guideline development subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2012; 79: 597-603.
  6. Désaméricq G, Youssov K, Charles P et al.: Guidelines for clinical pharmacological practices in Huntington’s disease. Rev Neurol 2016; 172: 423-432.
  7. Mestre T, Ferreira J, Coelho MM et al.: Therapeutic interventions for symptomatic treatment in Huntington’s disease. Cochrane Database Syst Rev 2009; Issue 3: CD006456.
  8. Ohlmeier C, Saum KU, Galetzka W et al.: Epidemiology and health care utilisation of patients suffering from Huntington’s disease in Germany: real word evidence based on Germany claims data. BMC Neurol 2019; 19: 318.

Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.